Thüringische Landeszeitung (Gotha)
Lebensgefühl auf vier Rädern
Freiheit, Unabhängigkeit, Urlaub: Es läuft fürs Auto. In der Krise hat es sich bewährt, jetzt wird es zunehmend zum Multifunktionsmobil
Fatih Akin war zum ersten Mal im Autokino. „Und zwar, als ich meinen Film ,Soul Kitchen‘ in Hamburg vorgestellt habe“, erzählt der 46-jährige Kultregisseur. Das Autokino könne Bestand haben, glaubt er. Seinen großen Boom feierte es in den autoverrückten 50er- und 60erJahren, als ganze Städte „autogerecht“umgestaltet wurden. Nachdem dieses Jahr zum Corona-Lockdown Kinos geschlossen wurden, erlebt es nun seine Wiedergeburt – genauso wie das Auto als Symbol für ein Lebensgefühl.
Das zeigt sich besonders beim Sommerurlaub: Laut einer aktuellen Umfrage wollten 70 Prozent der Deutschen im eigenen Wagen verreisen, bei Familien sind es sogar 75 Prozent. Vergangenes Jahr nahmen nur 36 Prozent der Urlauber ohne Kinder das Auto – und 52 Prozent der Familien.
Lieber offenes Verdeck, als mit Maske am Bahnhof zu stehen
„Eine Explosion des Autotourismus kündigt sich an“, ist sich der Zukunftsforscher Horst Opaschowski sicher. Und mehr noch: „Das Automobil wandelt sich vom Egomobil zum Multifunktionsmobil, was auch den Boom der Multivans erklärt. Flexibilität und Funktionalität stehen ganz obenan.“Der eigene Wagen habe sich eben in der Krise für Arbeit, Freizeit und Urlaub bewährt. Es läuft fürs Auto.
Zwar war die Liebe der Deutschen zum Auto nie erloschen. 47,7 Millionen Pkw sind 2020 gemeldet, so viele wie noch nie. Aber es war eine Liebe, die zunehmend auf Vorbehalte stieß. Das Auto galt als Umweltrüpel, als platzraubend und als gefährlich – vor allem für diejenigen, die nicht in der geschützten Blechkiste sitzen. Besonders der SUV wurde zum Symbol für rücksichtslosen Konsum: „Sie sitzen in ihren Panzern und zerstören die Natur“, ätzte etwa der Politologe Markus Wissen. Die Innenstädte wurden zunehmend abweisender für den Autoverkehr: Parkplätze verwandelten sich in Begegnungszonen, aus einstigen Durchfahrtsstraßen wurden Bummelmeilen.
Seit Corona sinkt die Autoscham wieder. Denn das Auto erlaubt Teilhabe bei gebotenem Abstand. Die Autokultur boomt europaweit. Der britische „Guardian“rief den „Sommer der Drive-in-Kultur“aus, im August startet das Automusikfestival Nightflix im englischen Newark. In Oberhausen gab die Band Revolverheld ein Autokonzert, man musste im Radio nur die passende Frequenz einstellen. Was war noch mal Fridays for Future?
„Mein Mazda MX-5 Sakura bedeutet für mich Lifestyle“, sagt die Pharmazeutin Tanja Böhme (47) aus Bonn. „Verdeck runter, Sonnenbrille auf, die Haare wehen im Wind: Das ist unvergleichlich besser, als mit Atemmaske auf dem zugigen Bahnhof zu stehen.“Nicht Status sei für sie entscheidend, ihr Auto sei nicht besonders teuer, sondern Freiheit und Unabhängigkeit. Ihr Mann brauche sein eigenes Auto für seine Hobbys: „Er packt da Propellergleitschirm oder Kletterausrüstung hinein.“
„Frei sein – jenseits von Maskenzwang und Social Distancing“, fasst Opaschowski den Trend zusammen. „Die Zukunftsdevise ist klar: My car is my castle!“Das Auto sei auch identitätsstiftend. Die emotionale Beziehung zum Pkw sei nach wie vor groß: „Mit einer Automarke werden auch besondere Persönlichkeitseigenschaften mitgekauft.“
Kein Wunder also, dass der Carsharing-Markt schwächelt. Noch vor wenigen Jahren galt manchen Besitz als von gestern. „Doch wer teilt schon gern seine Wohnung mit Fremden?“, fragt der Forscher. Auch die bisherigen städteplanerischen Konzepte zur Eindämmung des Autoverkehrs hätten nicht überzeugt: „Wer den Menschen etwas Schönes wegnimmt, muss ihnen etwas anderes Schönes dafür geben.“