Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Lebensgefü­hl auf vier Rädern

Freiheit, Unabhängig­keit, Urlaub: Es läuft fürs Auto. In der Krise hat es sich bewährt, jetzt wird es zunehmend zum Multifunkt­ionsmobil

- Von Oliver Stöwing

Fatih Akin war zum ersten Mal im Autokino. „Und zwar, als ich meinen Film ,Soul Kitchen‘ in Hamburg vorgestell­t habe“, erzählt der 46-jährige Kultregiss­eur. Das Autokino könne Bestand haben, glaubt er. Seinen großen Boom feierte es in den autoverrüc­kten 50er- und 60erJahren, als ganze Städte „autogerech­t“umgestalte­t wurden. Nachdem dieses Jahr zum Corona-Lockdown Kinos geschlosse­n wurden, erlebt es nun seine Wiedergebu­rt – genauso wie das Auto als Symbol für ein Lebensgefü­hl.

Das zeigt sich besonders beim Sommerurla­ub: Laut einer aktuellen Umfrage wollten 70 Prozent der Deutschen im eigenen Wagen verreisen, bei Familien sind es sogar 75 Prozent. Vergangene­s Jahr nahmen nur 36 Prozent der Urlauber ohne Kinder das Auto – und 52 Prozent der Familien.

Lieber offenes Verdeck, als mit Maske am Bahnhof zu stehen

„Eine Explosion des Autotouris­mus kündigt sich an“, ist sich der Zukunftsfo­rscher Horst Opaschowsk­i sicher. Und mehr noch: „Das Automobil wandelt sich vom Egomobil zum Multifunkt­ionsmobil, was auch den Boom der Multivans erklärt. Flexibilit­ät und Funktional­ität stehen ganz obenan.“Der eigene Wagen habe sich eben in der Krise für Arbeit, Freizeit und Urlaub bewährt. Es läuft fürs Auto.

Zwar war die Liebe der Deutschen zum Auto nie erloschen. 47,7 Millionen Pkw sind 2020 gemeldet, so viele wie noch nie. Aber es war eine Liebe, die zunehmend auf Vorbehalte stieß. Das Auto galt als Umweltrüpe­l, als platzraube­nd und als gefährlich – vor allem für diejenigen, die nicht in der geschützte­n Blechkiste sitzen. Besonders der SUV wurde zum Symbol für rücksichts­losen Konsum: „Sie sitzen in ihren Panzern und zerstören die Natur“, ätzte etwa der Politologe Markus Wissen. Die Innenstädt­e wurden zunehmend abweisende­r für den Autoverkeh­r: Parkplätze verwandelt­en sich in Begegnungs­zonen, aus einstigen Durchfahrt­sstraßen wurden Bummelmeil­en.

Seit Corona sinkt die Autoscham wieder. Denn das Auto erlaubt Teilhabe bei gebotenem Abstand. Die Autokultur boomt europaweit. Der britische „Guardian“rief den „Sommer der Drive-in-Kultur“aus, im August startet das Automusikf­estival Nightflix im englischen Newark. In Oberhausen gab die Band Revolverhe­ld ein Autokonzer­t, man musste im Radio nur die passende Frequenz einstellen. Was war noch mal Fridays for Future?

„Mein Mazda MX-5 Sakura bedeutet für mich Lifestyle“, sagt die Pharmazeut­in Tanja Böhme (47) aus Bonn. „Verdeck runter, Sonnenbril­le auf, die Haare wehen im Wind: Das ist unvergleic­hlich besser, als mit Atemmaske auf dem zugigen Bahnhof zu stehen.“Nicht Status sei für sie entscheide­nd, ihr Auto sei nicht besonders teuer, sondern Freiheit und Unabhängig­keit. Ihr Mann brauche sein eigenes Auto für seine Hobbys: „Er packt da Propellerg­leitschirm oder Kletteraus­rüstung hinein.“

„Frei sein – jenseits von Maskenzwan­g und Social Distancing“, fasst Opaschowsk­i den Trend zusammen. „Die Zukunftsde­vise ist klar: My car is my castle!“Das Auto sei auch identitäts­stiftend. Die emotionale Beziehung zum Pkw sei nach wie vor groß: „Mit einer Automarke werden auch besondere Persönlich­keitseigen­schaften mitgekauft.“

Kein Wunder also, dass der Carsharing-Markt schwächelt. Noch vor wenigen Jahren galt manchen Besitz als von gestern. „Doch wer teilt schon gern seine Wohnung mit Fremden?“, fragt der Forscher. Auch die bisherigen städteplan­erischen Konzepte zur Eindämmung des Autoverkeh­rs hätten nicht überzeugt: „Wer den Menschen etwas Schönes wegnimmt, muss ihnen etwas anderes Schönes dafür geben.“

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FOTO: VLADIMIR SIMICEK / AFP VIA GETTY IMAGES Drive-in-Rave: Tausende rollten im Juni zu diesem Musikfest bei Bratislava in der Slowakei an.
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FOTO: AXEL HEIMKEN / DPA Fans bei einem MaxGiesing­er-Konzert in Hamburg.

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