Thüringische Landeszeitung (Gotha)

„In Berlin ist vieles härter“

Nach 100 Tagen an der Bundesspit­ze will Susanne Hennig-Wellsow auf Platz 1 der Thüringer Landeslist­e

- Von Martin Debes

Noch ist der Himmel weißblau, die Gewitter sind erst für später angesagt. Die Bundesvors­itzende der Linken hat sich im Park vor dem Erfurter Landtag ihr Jackett ausgezogen und sitzt in Jeans und weißem T-Shirt auf einer Bank in der Sonne. Auf ihrem rechten Unterarm ist die Tätowierun­g gut zu erkennen: „As long as I’m here, no one can hurt you.“So lange ich hier bin, kann dir niemand weh tun. Den Satz, sagt sie, hat sie ihrem Sohn gewidmet.

Susanne Hennig-Wellsow, die Beschützer­in. Doch wer beschützt sie? Die ersten Monate in der Hauptstadt waren schwer. „Das hier in Thüringen ist sicher nicht Pillepalle“, sagt sie. „Aber in Berlin ist vieles härter, und teilweise auch aggressive­r.“Aber, das fügt sie hinzu: „Ich habe es ja so gewollt.“

Bislang war die Karriere von Hennig-Wellsow, 43, steil und eher unfallfrei verlaufen. Die Etappen nach der Sportschul­e und einigen Erfolgen im nationalen Eislaufkad­er: Studium, Eintritt in die Partei, Referentin in der Landtagsfr­aktion, Stadträtin in Erfurt, Landtagsab­geordnete, Landespart­eichefin und schließlic­h Vorsitzend­e der größten Regierungs­fraktion. Abgesehen von den frühen Kindheitsj­ahren in Mecklenbur­g wohnte sie stets in Erfurt, wo sie auch eine Familie gründete. Sie wuchs, wie sie selbst sagt, in die regionale Partei und die zugehörige­n Themen hinein.

Dann kam der 5. Februar 2020. Thomas Kemmerich wurde von AfD, CDU und FDP zum Ministerpr­äsidenten gewählt – und Susanne Hennig-Wellsow warf ihm den Blumenstra­uß vor die Füße. Für die

Linksparte­i war dies eine symbolhaft­e Heldinnent­at, ohne die im Rückblick der nächste Karrieresc­hritt Hennig-Wellsows schlecht vorstellba­r ist: Sie bewarb sich mit der hessischen Landtagsfr­aktionsche­fin Janine Wissler um die Doppelspit­ze der Bundespart­ei.

Seit 100 Tagen sind die beiden nun im Amt und haben, rein technisch betrachtet, durchaus geliefert. Sie haben den Entwurf für das Wahlprogra­mm für die Bundestags­wahl erarbeitet, das Berliner KarlLiebkn­echt-Haus in den Kampagnenm­odus versetzt und zumindest versucht, die notorisch zerstritte­ne Partei zu einen.

Die organisato­rische Hauptlast lag dabei auf Hennig-Wellsow. Sie ist zwar noch Abgeordnet­e im Thüringer Landtag, hat aber im Unterschie­d zu Wissler ihre Ämter im Land abgegeben. Auch sonst ist sie öfter als Wissler in Berlin, da sie sich auch privat verändert hat. Ihr neuer Partner wohnt in Potsdam.

Abgesehen davon gibt es eine klare Aufgabenve­rteilung. Während die westdeutsc­he Marxistin Wissler sich um den linksäußer­en, vor allem in der alten Bundesrepu­blik beheimatet­en Flügel kümmert, soll die ostdeutsch­e Realpoliti­kerin Hennig-Wellsow eine Regierungs­beteiligun­g im Bund vorbereite­n – sofern es dafür überhaupt reichen sollte.

Denn dies ist das zentrale Problem der beiden Frauen: Ihr Amtsantrit­t hat keine Dynamik erzeugt. Stattdesse­n sanken die Umfragewer­te auf bis zu sechs Prozent. Unter fünf Prozent wäre es mit der parlamenta­rischen Existenz vorbei.

Natürlich, die Zahlen lassen sich auch mit der Stärke der Grünen erklären, mit der Pandemie, die alle anderen Themen verdrängte. Aber

Susanne Hennig-Wellsow – hier auf dem Landespart­eitag der Linke in Sömmerda im September 2020 – führt seit dem 27. Februar die Bundespart­ei.

die Werte sind auch ein Resultat der alten, die Partei lähmenden Fehden. Sie eskalierte­n zuletzt nach der Buchveröff­entlichung Sahra Wagenknech­ts,

derweil die neue Doppelspit­ze ohnmächtig zusah.

Die Ex-Bundestags­fraktionsc­hefin wirft der Partei vor, lieber linksident­itäre Genderdeba­tten zu führen, anstatt sich für die Benachteil­igten einzusetze­n. Und sogar Hennig-Wellsows eigener Ministerpr­äsident Bodo Ramelow fragte öffentlich, warum die sozialen Verwerfung­en durch Corona nicht stärker thematisie­rt würden. Er sehe da, sagte er, inhaltlich bei der Bundespart­ei noch Potenzial.

Das gilt auch für manche medialen Auftritte von Hennig-Wellsow. Kurz nach ihrer Wahl patzte sie, als sie als die Chefin jener Partei, die alle Kampfeinsä­tze der Bundeswehr im Ausland verbieten will, nicht wusste, wie viele Kampfeinsä­tze es gibt. Später konnte sie Markus Lanz im ZDF nicht im Detail erklären, wie das Steuerkonz­ept der Partei funktionie­rt. In Erfurt hätte sich so etwas wohl versendet. In Berlin blieb es hängen. Ihre längst getroffene Entscheidu­ng, nicht als Spitzenkan­didatin der Bundespart­ei anzutreten, schien dadurch bestätigt. Stattdesse­n ist nun neben Wissler Bundestags­fraktionsc­hef Dietmar Bartsch nominiert.

Daheim jedoch, in Thüringen, dürfte Susanne Hennig-Wellsow an diesem Samstag unangefoch­ten auf Platz eins der Landeslist­e gewählt werden. Damit hat sie ein Mandat im Bundestag sicher – falls die FünfProzen­t-Hürde genommen wird. Falls die Linke am Sonntag bei der Landtagswa­hl in Sachsen-Anhalt wie erwartet stark verliert, wird das die Partei zusätzlich verunsiche­rn.

Doch an den parlamenta­rischen Rauswurf mag die Bundesvors­itzende der Linken nicht denken.

Lieber bereitet sie mögliche Sondierung­sgespräche mit SPD und Grünen vor. Bis zur Wahl am 26. September, sagt sie, „kann noch viel passieren“.

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