Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Stadtschre­iberin

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Es muss in der sechsten Klasse gewesen sein. In einer fingierten Grabkammer aus dem alten Ägypten war mir schwindlig geworden und während meine Klasse drinnen weiter lernte, musste ich an die Luft. Im Eingang zum Schloss Friedenste­in lehnte ich an der Wand und ließ mir den Wind um die Nase wehen.

Mein Blick fiel auf ein Plakat. Zu sehen war jenes Gothaer Liebespaar, unter dessen Eindruck die Kinder der Stadt aufwuchsen – jedenfalls wenn sie gesegnet waren mit Eltern, die sie zwangen, ins Museum zu gehen.

Auf Spruchbänd­ern geben sich die beiden Personen ein Treueversp­rechen,

so eng umschlunge­n, dass ihre Verbandelu­ng auch ersichtlic­h wird, wenn man den symbolisch­en Bindfaden in ihren Händen nicht versteht. Das Gemälde aus vor-Dürer’schen Zeiten, um das es zuletzt viel Unruhen gab, gehört zu meinen liebsten Assoziatio­nen mit der Stadt.

Und das, obwohl mich eine Erkenntnis hart traf, als ich, zwölfjähri­g und mit Restschwin­del, vor dem Plakat am Museumsein­gang stand. Denn dort war in großen Lettern gedruckt, es handle sich um das älteste Liebespaar der Kunstgesch­ichte (so weit, so normal) – mutmaßlich eine Margarete Weißkirchn­er und einen, hier merkte ich auf, Graf Philip den I. von Hanau-Münzenberg. Ein Graf sollte da also abgebildet sein, aber welche der beiden Figuren denn bitte?!

Für mich war das Gothaer Liebespaar von jeher ein weibliches Paar gewesen.

Das Wort lesbisch hatte ich vielleicht noch nie gehört. Aber dieses Bild: die eine Person mit glitzernde­m Turban, die andere mit Blumenkran­z in der Lockenprac­ht; das waren für mich ganz klar zwei Damen. Und nun sollte eine der beiden ein Philip sein?

Für mich war das in den ersten Jahren meiner Kindheit eine unkomplizi­erte Beiläufigk­eit: dieses

Frauenpaar im Schloss, klar, das wachte über mich. Vielleicht schütteln Sie jetzt den Kopf oder lachen über meine kindliche Interpreta­tion – aber funktionie­rt so nicht Kunst auf einer übergeordn­eten Ebene?

Ich persönlich wollte immer gern Texte schreiben, die für jede Person zugänglich sind, egal, wie belesen oder nicht.

Solange ein Werk etwas geben kann, Zuflucht, Inspiratio­n, Erkenntnis, klein oder groß: Ich freue mich immer, wenn Menschen mir erzählen, was meine Texte mit ihnen machen. In meinem ersten Roman geht es – unter anderem – um eine junge Frau namens Pega.

Sie leidet an gebrochene­m Herzen, wird aber, so prophezeit der Epilog es ihr, „irgendwann klarer sehen“. Eine Hörerin der Vertonung schrieb mir bald begeistert, sie würde sich so darüber freuen, dass Pega nicht nur Männer, sondern auch Frauen lieben würde, schließlic­h würde sie ja am Ende des Buches „Klara sehen“.

Ich habe sie nicht korrigiert, sondern diese Bedeutung mit offenen Armen empfangen – und in einer ähnlich offenen Geste wird das Gothaer Liebespaar für mich aus dem Augenwinke­l immer auch ein bisschen aus diesen zwei jungen Frauen bestehen, die ich als Kind gesehen habe.

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