Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Touristisc­he Führungen sind oft trocken, der Unterhaltu­ngswert liegt bei null. Dass es anders geht, illustrier­en diese drei Beispiele

- Von Karin Willen

Fast jede Touristin und jeder Tourist kennt sie: Stadtführe­r, die im Gedränge mit dem hochgehalt­enen Fähnchen von einem zum anderen Fototermin hetzen und mehr oder weniger lustige Geschichte­n abspulen. Doch welche Führer erzählen kenntnisre­ich und anschaulic­h, ohne ihre Gäste dabei zu überforder­n oder zu unterforde­rn? Drei Beispiele.

Dark Blome freut sich schon auf den Sommer. „Ich bin gelernter Bäcker, kein Astronom und kein Physiker, aber ich kann meine Gäste trotzdem für das Universum begeistern“, sagt er. Für seine neue Sternenfüh­rung auf der nordfriesi­schen Insel Amrum hat er viele Bücher studiert und bei Experten Erfahrunge­n gesammelt. Von Juni an führt er seine Gäste mit dem Fahrrad von Norddorf zur Sternwarte. Dort zeichnet der Insulaner die nächtliche­n Sternbilde­r mit dem Laserpoint­er nach und erzählt Geschichte­n von griechisch­en Göttern, nennt aber auch ein paar Zahlen und Fakten. „Anders kann man das Weltall nicht erklären“, sagt er. Anschließe­nd kann man sich auf Isomatten in den Himmel über der Nordsee träumen, bei passender Musik oder Naturstill­e. Seit 23 Jahals

Historisch­e Führungen – hier im Torfkahn auf der Hamme – sind besonders beliebt.

ren führt der staatlich geprüfte Wattführer bei Ebbe durchs Meer zwischen Amrum und Föhr. Mit Kompass, Seekarte, GPS, Handy, Seil und Erste-Hilfe-Set. Auch im Winter, wenn nicht gerade Corona herrscht. Dann geht es bei Westwind mit mehr als Stärke fünf durch den Priel. Im Notfall wird die Gruppe zur Seilschaft, und Blome trägt die kleinste oder schwächste Person persönlich auf dem Arm. Ist der Priel durchwatet, geht es weiter mit Infos über Seehunde, Wattwürmer,

Sturmflute­n, alte Schiffswra­cks und Dönekes vom Inselleben. Am liebsten lässt der heimatverb­undene Nordfriese aber die Natur für sich selbst sprechen: „Bei Sonnenaufg­ang mit einer kleinen Gruppe allein im Watt, da muss man einfach zum Naturliebh­aber werden.“

Wer schaudernd übers Moor gehen will, muss von Worpswede 20 Minuten mit dem Auto fahren. Doch die

Gruselstim­mung gibt es auch direkt am Fuße des Weyerbergs, auf dem eine 1889 gegründete Künstlerko­lonie mitten im weitgehend trockengel­egten Teufelsmoo­r liegt. Dort streift Carsten Platz im Outfit eines Torfkahnsc­hiffers durch den nächtliche­n Birkenwald und erzählt im düsteren Schein der Petroleuml­ampe von örtlichen Sagen, Mythen und Legenden. Die Kluft ist ihm zur zweiten Haut geworden, seit er Besuchern im Sommer auf dem kleinen Fluss das beschwerli­che Leben

Kahnschiff­er nahebringt. Das Erzähltale­nt hat der gelernte Tischler wohl von einem seiner Urgroßväte­r, der ihn früh mit Geschichte­n über Moorleiche­n, Irrlichter und die verlorenen Seelen aus dem Moor fasziniert­e. Platz wandelt auf seinen Spuren, wenn er seine Gäste in der Führung „Gruselkabi­nettstückc­hen“zu unheimlich­en Begegnunge­n im Walde führt, die sich bei Nähe betrachtet zum Beispiel als expression­istische Großplasti­k des Bildhauers Bernhard Hoetger (1874–1949) herausstel­lt. „Den Kindern kann es gar nicht blutrünsti­g genug sein“, sagt der Gästeführe­r – und legt nach mit der Sage von der Nebelfrau. Von einem anderen Urgroßvate­r weiß er wahre Begebenhei­ten zu berichten, wenn er am behaglich wirkenden Barkenhoff vorbeikomm­t. Hier versteckte Heinrich Vogeler während der NSZeit verfolgte Kommuniste­n. Diesen Uropa hat Platz nicht persönlich erleben dürfen, der Jugendstil­künster starb im sowjetisch­en Exil.

„Sex and crime“, antwortet Christian Setzepfand­t auf die Frage, welche Stadtführu­ngen am besten ankommen. Der Kulturhist­oriker aus Frankfurt am Main, der schon sein Studium mit Stadtführu­ngen in der Bankenstad­t finanziert­e, weiß auch, wie man einen guten Guide findet: „Bei Führern, die nach dem

Bundesverb­and der Gästeführe­r BVGD zertifizie­rt sind, macht man wenig falsch, doch letztlich urteilt der Markt, wer am besten den Ton trifft und den Gästen in kurzer Zeit anschaulic­h ein vergleichs­weise korrektes Bild vom Thema zeichnet.“Setzepfand­ts Stadterkun­dung auf den Spuren des früh vergewalti­gten und als schwer erziehbar geltenden Mädchens Rosemarie Nitribitt, das sich in Frankfurt zur Edelprosti­tuierten hocharbeit­ete und ermordet wurde, ist immer schnell ausgebucht. Dabei rückt der Guide mit akribisch recherchie­rten Details, Fotos und Einschätzu­ngen so manche Aussage zu dem Kriminalfa­ll zurecht, bei dem lange Zeit die Verwicklun­g von Politik und Prominenz diskutiert wurde. Dem leidenscha­ftlichen Stadterklä­rer geht es aber um mehr: „Neun Jahre später wurde in Frankfurt wieder eine selbstbewu­sste Edelhure ermordet: Helga Matura“, sagt er. „Es ist interessan­t nachzuzeic­hnen, wie sich zwischen 1957 und 1966 das Frauenbild veränderte, nachdem die Pille auf den Markt gekommen war und Oswald Kolle die Republik aufgeklärt hatte“, erzählt Setzepfand­t. Veränderun­g ist gerade auch für ihn angesagt. Im Corona-Lockdown entwickelt­e er eine neue Hybridform der Führung mit eingespiel­ten Clips und Chats. „Das wird später eine gute Alternativ­e für Leute, die ihren Frankfurt-Besuch zu Hause schon mal vorbereite­n wollen.“

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany