Thüringische Landeszeitung (Gotha)
Den Anderen besser zuhören
Urteile nie über einen Menschen, solange du nicht sieben Meilen in seinen Schuhen gelaufen bist! In diesem Sprichwort steckt eine Botschaft des Mitfühlens, die aktueller denn je ist.
Das zeigt das Beispiel der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt. Normalerweise interessiert das ostdeutsche Flächenland mit seinen
2,2 Millionen Einwohnern den Rest der Republik wenig. Weil die AfD aber in einer Umfrage vor der CDU landete, ist die Aufregung groß. Prompt diskutieren wieder alle darüber, ob „der Osten“ein rechtsextremes Problem hat. Umfragen zeigen, dass in Ostdeutschland die Skepsis gegenüber der Demokratie als Staatsform größer ist als im Westen.
Oft unterscheidet sich die Frustration der Ostdeutschen in den ländlichen Gebieten auch gar nicht so sehr von jener im Westen der Republik. Jemand, der in einer industrieschwachen Gegend wohnt und stundenlang zur Arbeit pendeln muss, wird kein Verständnis für die Forderung der Grünen haben, den Spritpreis um 16 Cent anzuheben. Wer sich trotz aller Mühe den Traum vom kleinen Eigenheim nicht erfüllen kann, wird die Diskussion um die Gendersprache befremdlich finden.
Bei vielen politischen Auseinandersetzungen geht es weniger um den Inhalt als um das Gefühl, vergessen und nicht wertgeschätzt zu sein. Womit wir wieder bei der Lebensweisheit sind. Warum nicht den Pandemiesommer nutzen, um – von West nach Ost, von Ost nach West – einmal an jene Orte im eigenen Land zu fahren, die man am wenigsten versteht? Um zu entdecken und zuzuhören. In den Schuhen der anderen ist man damit noch nicht gelaufen. Aber man hat sie ein kleines Stück begleitet.