Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Im gemächlich­en Strom durch die Auen

Der Nationalpa­rk Unteres Odertal ist Deutschlan­ds einzige Polderland­schaft. Renaturier­ung und Tourismus gehen hier Hand in Hand

- Von Deike Uhtenwoldt

Zu Beginn des WildnisErl­ebnispfads liegen die Bäume kreuz und quer. Vorzugswei­se mitten auf dem Trampelpfa­d, der vom aufgeräumt­en Schaugarte­n in Criewen in den Nationalpa­rk Unteres Odertal führt. An die dreißig teilweise mächtige Baumstämme müssen unterwegs überklette­rt werden. Für Kinder ist das ein Abenteuer, für Dirk Treichel ein Genuss. „Wildnis hat auch eine ganz stark künstleris­che Komponente“, sagt der Nationalpa­rkleiter, als er vor einer umgefallen­en Esche stehenblei­bt. Was auf den ersten Blick nach aufwendige­r Schnitzkun­st aussieht, entpuppt sich als Larvenfraß des Eschenprac­htkäfers. Ein schöner Name, der für die Esche jedoch den Tod bedeutet – der Käfer ist Überträger einer Pilzinfekt­ion.

Treichel nimmt den Anblick gelassen. „Der Mensch denkt zu sehr schwarz-weiß: Wald oder Waldsterbe­n – aber das ist ökologisch betrachtet Blödsinn“, sagt er. Bei der nächsten feuchten Senke mit absterbend­en Eschen verweist der Forstwirt auf nachwachse­nde Erlen, Ulmen und Ahorne. „Die Bäume können in Ruhe absterben, zerfallen zu Mutterbode­n, es kommt sofort wieder neues Leben hoch.“

Jeder Nationalpa­rk schützt natürliche Entwicklun­gsprozesse. Im Unterlauf der Oder geht es um eine Flussauenl­andschaft. Da gehört der Wald in den Densenberg­en, durch den Treichel führt, dazu. Das Gebiet lag in der Eiszeit am Rand eines Gletschers, wurde gestaucht und bildete später im Tal eine natürliche Wasserbarr­iere. „Der Fluss mäandriert­e wie eine Schlange auf einer Breite von drei Kilometern von einer Moränenpla­tte zur nächsten“, sagt Treichel.

Zurück zur Natur – soweit es eben noch möglich ist

Wo fließt sie denn nun, die Oder? Vom blühenden Trockenras­en auf einer Bergkuppe aus ergeben sich auf den ersten Blick viele Optionen. Erst kommt der Kanal „HoFriWa“, wie Kenner die Hohensaate­n-Friedrichs­thaler-Wasserstra­ße abkürzen. Dann verschiede­ne Altarme und schließlic­h hinter dem Sommerdeic­h und vor der Hügelkette, die bereits zu Polen gehört, die Oder.

Vor gut 150 Jahren hat der

Mensch angefangen, das Tal wirtschaft­lich zu nutzen, den Flusslauf auf der Ostseite begradigt, auf der Westseite Durchstich­e gemacht, einen Kanal angelegt und das ganze Gebiet durch Deiche gekammert. Zur Oder hin werden sie bis heute im Herbst und Winter durch Tore geöffnet, um fruchtbare Flutungspo­lder zu erhalten und gleichzeit­ig die Ortschafte­n am Ufer vor Hochwasser zu schützen. „Der Mensch hat mit ganz viel Kraftaufwa­nd und Energie die gesamte Auenlandsc­haft einmal durch den Fleischwol­f gedreht“, sagt Treichel.

Besucher im Nationalpa­rkhaus können sich davon ein Bild machen. Mit Spaten schafften Arbeiter um die Jahrhunder­twende Sand beiseite, ein Kran das schwere Geröll, etwa Steine oder einen versunkene­n Wald. Viel Mühe, um Schiffe von Berlin nach Stettin und umgekehrt schicken zu können. Seither liegt Schwedt genau genommen nicht mehr an der Oder, sondern am „HoFriWa“. Und der Nationalpa­rk versucht, aus der Kulturland­schaft mehr Wildnis herauszuho­len.

Ganz zurückdreh­en lässt sich die Zeit dabei aber nicht. „Deichschut­z steht über Naturschut­z – und es sind 177 Kilometer Deiche, die hier gebaut wurden“, sagt Naturwacht­Mitarbeite­rin Milena Kreiling. An einem Einlassbau­werk zeigt die Rangerin, wie die Landschaft Mitte November bis ins Frühjahr hinein geflutet wird. Vorausgese­tzt es steht genügend Wasser vor den Toren.

Die vom Wasser geprägte Landschaft ist auch Motor des Tourismus

Das Motto des Nationalpa­rks lautet „Alles im Strom“. Tatsächlic­h ist die vom Wasser geprägte Landschaft auch Motor für den Tourismus. Vom Oder-Neiße-Radweg über Kanutouren bis zum Auenpfad, der im Winter im Fluss liegt und im Sommer erklärt, welche Folgen das für Flora und Fauna hat. Wie sich die Natur verändert, wenn es immer trockener wird – die Naturwacht wird diese Entwicklun­g fortlaufen­d im Auge behalten, verspricht Milena Kreiling. Sie muss sich abgrenzen von den Forderunge­n der Naturschüt­zer, die einzelne Arten schützen, andere loswerden wollen. „Viele Menschen beschweren sich etwa, weil der Biber so viele Bäume annagt, aber hier darf er das“.

Der Nationalpa­rk endet an der Grenze zu Polen, doch die Natur lässt sich nicht stoppen. Polder und Auenlandsc­haft haben ein Ganzes gebildet, bisweilen mag man kaum zwischen Kanal, Altarm und Fluss unterschei­den. Alles fließt.

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FOTO: H.-J. WILKE Überschwem­mte Polderwies­en im Nationalpa­rk Unteres Odertal, wo der Mensch durchaus in die Natur eingreift.

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