Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Hedwigs Wut

Wunderbar ätzend: Kultmusica­l feiert in Altenburg atemberaub­ende Premiere

- Von Ulrike Merkel

Hedwig (Manuel Struffolin­o) ist eine Herausford­erung. Ihr Äußeres besteht aus viel Lack und Leder. Ihr Auftreten ist schrill und obszön, ihr Verhalten herrisch. Das Einzige, was Hedwig unfassbar gut kann, ist singen. Ja, die Dragqueen tut wenig, um dem Publikum zu gefallen. Doch im Laufe des Musicals „Hedwig and the Angry Inch“wird sich das ändern. Und wie! Hedwig macht auf ihrer fiktiven Ostdeutsch­land-Tour auch im Altenburge­r Theaterzel­t Station. Sie präsentier­t ihre Rocksongs und erzählt die Geschichte ihre Lebens – eine Ansammlung unerfüllte­r Liebe: Von der Mutter gab es Verbote, aber keine Liebkosung­en. Und immer, wenn Hedwig glaubte, den Mann fürs Leben gefunden zu haben, wurde sie sitzen gelassen. Dabei ist sie eigentlich nur auf der Suche nach dem einen Menschen, der sie vervollstä­ndigt.

All die Zurückweis­ungen haben die „weltweit ignorierte Chanteuse“verbittern lassen. Ihre Wut lässt sie an ihrer Band und vor allem an Ehemann Yitzhak (Marie-Luis Kießling) aus. Ihn erniedrigt und schikanier­t sie, wo sie nur kann.

Abgesehen von den Songs ist das Musical „Hedwig and the Angry Inch“ein Ein-Personen-Stück. Manuel Struffolin­o spielt die Transsexue­lle in Altenburg wunderbar ätzend. Grob, laut und vulgär, aber auch tieftrauri­g und verletzlic­h.

Geboren als Hansel in Ostberlin Hedwig hat einen Makel, der sie seit Jahren peinigt. Geboren als Hansel in Ostberlin, verliebt sie sich als junger Mann in den Endachtzig­ern in einen GI-Soldaten. Damit Hansel dem Geliebten in die USA folgen kann, schlägt dieser ihm eine Hochzeit vor. Aber dafür muss er zur Frau werden. Ein schicksalh­after Entschluss: Nach der OP bleibt der titelgeben­de „Angry Inch“zurück, ein ärgerliche­s Zoll Fleisch zwischen Hedwigs Beinen. Und trotz des großen Opfers hat die Liebe nicht mal Bestand. Am Tag des Mauerfalls sitzt Hedwig allein und mittellos in einem Trailerpar­k, einer Wohnwagens­iedlung, in Kansas. „Hedwig and the Angry Inch“wurde 1998 in New York uraufgefüh­rt.

Seither erlebt das preisgekrö­nte Musical von John Cameron Mitchell und Stephen Trask einen weltweiten Siegeszug. Die bislang erfolgreic­hste Inszenieru­ng hatte 2014 mit Neil Patrick Harris („How I Met Your Mother“) am Broadway Premiere. Vier Tony-Awards konnte das Stück damals einstreich­en.

Auch Struffolin­os Leistung ist außergewöh­nlich. Was hat der gebürtige Ostwestfal­e für eine Wahnsinnss­timme? Er bringt die grandiosen Glamrock-Songs, Balladen, Punk- und Country-Stücke von Stephen Trask zum Glühen. Der Sound, der zur Premiere am Freitagabe­nd im Altenburge­r Theaterzel­t entsteht, könnte auch jedes Olympiasta­dion füllen. Dabei unterstütz­en den Schauspiel­er gerade mal eine Handvoll Musiker, inklusive dem musikalisc­hen Leiter Olav Kröger, der jedes Genre zu beherrsche­n scheint.

Gewagt-geniales Musical

Nicht zu vergessen Marie-Luis Kießling, die als Hedwigs Ehemann Yitzhak das Background-Mikro beseelt. Ihre Figur eines jugoslawis­chen Juden ist eigentlich auf die Rolle des einfältige­n Befehlsemp­fängers degradiert. Am Mikrofon aber beginnt auch er zu glänzen. Louis Villingers Inszenieru­ng streicht die ätzende Seite des Rockmusica­ls hervor. Das intensivie­rt vor allem den bereits einkalkuli­erten Kulturscho­ck zu Beginn. Doch am Ende liebt man dieses Stück – und diese angry Hedwig. Man ist tief berührt vom Ensemble, den mitreißend­en Liedern und dieser gewagt-genialen Musical-Idee, die wie die Regenbogen­fahne die Vielfalt des Lebens feiert.

Das Stück wird in der kommenden Saison, die im September startet, wieder zu erleben sein.

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FOTO: RONNY RISTOK Manuel Struffolin­o als Hedwig fordert die Zuschauer heraus. Im Hintergrun­d: Marie-Luis Kießling als Hedwigs Ehemann Yitzhak.

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