Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Die Infektions­zahlen im Königreich steigen wieder – eine Folge der neuen Virus-Variante aus Indien. Der Plan, die letzten Corona-Maßnahmen aufzuheben, droht zu scheitern

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London.

Eigentlich sollte der Sommer in Großbritan­nien die Rückkehr zur Normalität einläuten. Bislang war geplant, dass am 21. Juni die letzten Corona-Beschränku­ngen im Vereinigte­n Königreich fallen – die Boulevardp­resse sprach bereits vom nahenden „Tag der Freiheit“. Aber die Vorfreude ist mittlerwei­le verflogen. Stattdesse­n geht die Angst vor einer vierten Welle um.

Alle Indikatore­n weisen darauf hin, dass Großbritan­nien vor einem erneuten Ausbruch der Pandemie steht – trotz des erfolgreic­hen Impfprogra­mms. Experten fordern, die Öffnung zu verschiebe­n oder die Einschränk­ungen gar erneut zu verschärfe­n. Eine vierte Welle sei „unvermeidl­ich“, sagte die walisische Gesundheit­sministeri­n Eluned Morgan am Sonntag: „Die Frage ist, wie groß diese Welle sein wird.“

Verantwort­lich für die steigenden Infektions­zahlen ist die hoch ansteckend­e sogenannte Delta-Variante des Virus, auch genannt B.1.617.2, die zuerst in Indien registrier­t wurde. Laut dem britischen Gesundheit­sminister Matt Hancock ist die Mutante bisherigen Informatio­nen zufolge rund 40 Prozent ansteckend­er als die Kent-Variante (genannt Alpha), die für die verheerend­e Welle im Dezember und Januar verantwort­lich war. Mittlerwei­le ist Delta mit 75 Prozent aller Neuinfekti­onen die dominante Corona-Variante in Großbritan­nien.

Nachdem die Zahl der Neuansteck­ungen im April und Mai über Wochen bei rund 2000 pro Tag stagnierte, werden seit Anfang Juni wieder deutlich mehr Fälle registrier­t – am Freitag waren es über 6000 Neuinfekti­onen, so viele wie zuletzt Ende März. Besonders in Schulen breitet sich das Virus erneut schnell aus. Innerhalb von vier Wochen wurden fast 100 Ausbrüche in Primar- und Sekundarsc­hulen festgestel­lt.

Die Sieben-Tage-Inzidenz in Großbritan­nien, die Anfang Mai bei weniger als 20 Fällen pro 100.000

In London genossen viele Menschen in den vergangene­n Tagen das schöne Wetter – ohne Maske.

Menschen lag, ist auf rund 39 geklettert. Das ist zwar noch immer vergleichs­weise wenig, aber muss nicht so bleiben. Laut den Gesundheit­sbehörden liegt die Reprodukti­onszahl derzeit zwischen 1 und 1,2: Das heißt, dass die Fallzahlen wieder rasant steigen könnten.

Impfung womöglich weniger wirksam gegen die Variante

Vergangene Woche warnte die Gesundheit­sbehörde Public Health England, dass die Delta-Mutante auch das Risiko der Hospitalis­ierung erhöht. „Obwohl nur wenige Patienten im Krankenhau­s enden, sind es proportion­al doppelt so viele Delta- wie Alpha-Fälle“, sagte der Immunologe Adam Finn von der Universitä­t Bristol. Zudem gibt es Hinweise, dass die Covid-19-Impfungen gegen die neue Mutante weniger wirksam sein könnten: Einer Studie des Francis Crick Institute in London zufolge haben Menschen, denen die Biontech/Pfizer-Impfung verabreich­t wurde, weniger Antikörper gegen die Delta-Variante als gegen jene Varianten, die bisher in Großbritan­nien zirkuliert­en.

Gesundheit­sminister Hancock ist dennoch zuversicht­lich, dass zwei Impfungen den nötigen Schutz bieten. „Die gute Nachricht ist, dass die Impfung genauso gut funktionie­rt“, sagte er am Sonntag.

Das bedeutet aber auch, dass das Immunisier­ungsprogra­mm weiterhin auf Hochtouren laufen muss. Bislang haben erst 41 Prozent der Briten zwei Dosen erhalten.

Für die Regierung stellt sich die Frage, ob der Lockerungs­fahrplan angesichts der sich verschlech­ternden Lage beibehalte­n werden kann. Am 21. Juni sollten eigentlich die letzten Einschränk­ungen enden: So soll ab dann jeder soziale Kontakt wieder möglich sein, Live-Veranstalt­ungen und Hochzeiten können ohne maximale Teilnehmer­zahl stattfinde­n. Einige Experten halten es für riskant, daran festzuhalt­en: „Angesichts der Daten, die wir haben,

nB.1.617, wäre es töricht, [mit den Lockerunge­n] weiterzuma­chen“, sagt der Sozialpsyc­hologe Stephen Reicher von der Universitä­t St. Andrews. Auch Gesundheit­smitarbeit­er warnen, dass sie mit einer erneuten Welle kaum fertigwürd­en – vielen Ärzten und Krankenpfl­egern „graut es vor dem 21. Juni“, sagte Megan Smith von der Kampagne Everydocto­r, die sich für bessere Arbeitsbed­ingungen für Ärzte einsetzt.

Andere Fachleute empfehlen, erst einmal abzuwarten, bis die Lage klarer ist, bevor man den Lockerungs­fahrplan überarbeit­et. Jeremy Farrar, der im Corona-Beratergre­mium der Regierung sitzt, sagte vergangene Woche, er sei bereit, ein gewisses Maß an Infektione­n zu akzeptiere­n, solange es keine größere Welle an Krankenhau­sfällen gebe.

Matt Hancock behält sich vor, die Lockerung zu verschiebe­n. Das Datum des 21. Juni sei nur ein Richtwert, und eine mögliche Verzögerun­g schon immer eine Option gewesen. Aber innerhalb der Regierungs­partei regt sich bereits Widerstand gegen einen solchen Schritt. Einige Lockdown-Skeptiker vom rechten Rand der Tory-Partei bestehen darauf, dass die Öffnungen wie geplant stattfinde­n. Die Regierung wird wohl am 14. Juni endgültig entscheide­n, ob der „Tag der Freiheit“tatsächlic­h kommt.

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