Thüringische Landeszeitung (Gotha)
Das Mehrgenerationenhaus Gotha erstellt eine Foto-Speisekarte, um Barrieren für Analphabeten abzubauen
Gotha.
In Deutschland leben mehr als sechs Millionen Erwachsene, die nicht richtig lesen und schreiben können. Alltägliches wird für sie zur Herausforderung, auch wenn ihre Mitmenschen oft erst spät bemerken, dass ihr Gegenüber die Welt anders wahrnimmt.
Wie das ist, wenn Buchstaben keinen Sinn ergeben, erzählt Thomas (Name von der Redaktion geändert). Er fühlt sich minderwertig dafür, dass er nicht lesen kann. Deshalb besucht er einen Kurs zur Alphabetisierung. Ihm hören an diesem Vormittag Bundesfreiwillige aus der Region zu. Sie besuchen im Mehrgenerationenhaus Gotha einen Bildungstag, der Analphabetismus in den Mittelpunkt stellt. Dabei geht es nicht bloß darum, Berührungspunkte zu schaffen und dem Thema das Tabu zu nehmen. Die Situation für Analphabeten soll sich auch ganz praktisch verbessern.
Pfandsystem mit
Symbolen erklären
Gefördert vom Bundesfamilienministerium bietet das Mehrgenerationenhaus Gotha das Projekt „LesenSchreiben-Rechnen“an, in dem deutschsprachige Erwachsene angesprochen werden sollen, die diese Fähigkeiten nicht alltagstauglich beherrschen. Interessierte werden informiert, beraten und an die richtigen Stellen weitervermittelt. Noch in diesem Jahr soll zudem eine FotoSpeisekarte im Café der Einrichtung eingeführt werden.
Das Mehrgenerationenhaus bietet täglich warme Speisen an, versteht sich jedoch vor allem als Begegnungsort für Menschen mit ganz unterschiedlichen Fähigkeiten und sozialem Hintergrund. Und keiner von ihnen soll zukünftig noch in die Situation kommen, etwas nicht bestellen zu können. Deshalb sollen alle Speisen, Getränke und nennenswerte Inhaltsstoffe in Bildern und Symbolen dargestellt werden.
Schnell kommt die Erkenntnis, dass es gar nicht so einfach ist, den Inhalt einer Speisekarte in Bilder zu fassen. Ein Symbol für das vegetarische Gericht ist schnell gefunden. Doch wie erklärt man visuell das Pfandsystem für Mahlzeiten zum Mitnehmen? Immerhin soll das tägliche Essen im Mehrgenerationenhaus nachhaltig bleiben.
Auch, dass es eigentlich nicht zwei verschiedene Karten mit und ohne Worte braucht, fällt den Teilnehmenden
des Bildungstags auf. Denn nach der Foto-Speisekarte zu fragen, sei eine Situation, die Analphabeten vermeiden würden. „Wir wollen nicht, dass sie sich outen müssen,“sagt Bernd Seydel. Er will die Getränke und Speisen fotografieren. Dafür sind drei Fototermine angesetzt.
Idee soll Nachahmer in der Gastronomie finden
Zur Umgestaltung der Speisekarte gehört auch, sämtliche dekorativen Elemente zu streichen. Sämtliche Zierde lenke nur vom Wesentlichen ab. Es soll sich auf den Inhalt konzentriert werden. Generell setzen sich die Teilnehmenden zum Ziel, ihre Umwelt weniger textdominant zu gestalten. Denn das Stigma verschwinde nicht dadurch, dass Menschen alphabetisiert werden. Lesen zu können, dürfe kein Standard sein. Vielmehr müsse ein Spektrum der Leistung, in dem sich jeder Lesende oder Nicht-Lesende wiederfindet, neu gedacht werden.
Es ist die Hoffnung der Bundesfreiwilligen, dass die Idee Nachahmer in der Gastronomie findet, damit mehr Menschen an dieser eigentlich so normalen Aktivität teilhaben können.