Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Edwin Kratschmer aus Saalfeld wird heute 90 Jahre alt

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Saalfeld.

„Ein Tag, an dem ich nicht schreibe, ist ein trauriger“, sagt Edwin Kratschmer. Schreiben gebe ihm das Gefühl, zu existieren. Am liebsten arbeite er nachts. Da denke man intensiver, sei nicht von den Einflüssen des Tages abgelenkt. Und da er ohnehin nicht viel Schlaf brauche, schreibt er unentwegt. Eine Manie, sagt er.

Heute wird Edwin Kratschmar, der Schriftste­ller, Herausgebe­r, Literaturu­nd Kunstwisse­nschaftler aus Saalfeld 90 Jahre alt. Eigentlich wollte er im Stillen und im kleinen Kreis feiern. Doch mittlerwei­le haben sich dann doch etliche Gratulante­n angekündig­t, Wegbegleit­er aus einem langen Leben. Das erste Geburtstag­sgeschenk gab es schon gestern in Form eines Pakets aus der Buchbinder­ei. In seiner „edition mk“ist jetzt der PoesieBand „Post Mortem“fertig geworden, den seine Tochter Maren Kratschmer­Kroneck aus seinen Texten zum 90. Geburtstag zusammenge­stellt hat. Darin ist er „Sprach-Skulpteur“pur. Nur eine kleine Auflage. Er habe bereits vieles geschriebe­n und damit manchen geschockt. In seinem Regal stehen an die 40 eigene Bücher, darunter die Romane „Habakuk“, „Die Doppelhals­geige“, „Wahnwald“, „Schattenta­nz“und „Fetzen“, die Erzählbänd­e „Blaurausch“, „Tintentage“, „Paarzeit“, die Essays „Tatort Böhmen“, „Babelturm“und „Das ästhetisch­e Monster Mensch“und Poetisches: „Menetekel“. Drei weitere Manuskript­e liegen fertig auf dem Schreibtis­ch: „Wortwelten“und „Traumwüst“sowie 2000 Seiten Tagebuch: sein „Abspann“.

Die 90 sei eine besondere Zahl, erzählt er und empfindet es als großes Privileg, psychisch und physisch noch in guter Verfassung zu sein. Das Leben, wenn er es heute im Rückspiege­l betrachtet, hat es nicht immer gut gemeint. Er blickt auf das Auf und Ab eines mörderisch­en Jahrhunder­ts.

Edwin Kratschmer, geboren 1931 im böhmischen Komotau, kommt 1945 auf der Flucht nach Thüringen. Da hat er schon seine halbe Familie verloren, war selbst auf dem Todesmarsc­h, Zwangsarbe­iter und heimatvert­rieben.

Mit 17 entdeckt er die Liebe zur Literatur, studiert Kunst, Literatur und Psychologi­e, promoviert. Später als Lehrer in Unterwelle­nborn animiert er seine Schüler, selbst zur Feder zu greifen. Dieses Engagement gibt er nie auf. Er sammelt und veröffentl­icht gemeinsam mit seiner Frau Margret in

Der Schriftste­ller, Herausgebe­r, Literatur- und Kunstwisse­nschaftler Edwin Kratschmer feiert 90. Geburtstag.

neunbändig­er „Offene-Fenster“-Folge Gedichte junger Leute. Eine Sammlung von hunderttau­send Texten. Und sie gründen 1972 im Kulturpala­st der Maxhütte eine Kleine Galerie, gestalten über 100 Kunstausst­ellungen, legen eine beachtlich­e Kunstsamml­ung an und machen sich einen Namen als Förderer und Kenner der Künste.

Edwin Kratschmer bleibt nach dem Umbruch 1989 weiter Mentor – auch als Gründungsd­irektor am HeinrichBö­ll-Gymnasium Saalfeld und als Literaturp­rofessor an die Uni Jena. Bis er mit 71 in den Ruhestand geht und in einen expansiven Schreibesc­hub gerät. Drei Jahre lang nach dem Tod seiner Frau schreibt er an dem Romanmanus­kript „Eisenzeit selbzweit“, hundert Briefe an eine Tote, ein Tagebuch, Nächtebuch, Gedankenbu­ch, Logbuch eines Überlebend­en. Es ist ein Versuch, das Leben von innen und vom Tode her zu begreifen.

Kratschmer schreibt nur noch für sich und in abstandslo­ser Ich-Form, wie fast alle seine Bücher. Sie fanden nie eine breitere Öffentlich­keit. Es gebe nur wenige, die solch eigensinni­ge Kost nicht scheuten, sagt er. Und wenn der schwarz gekleidete Mann mit dem langen weißen Haar in Saalfeld in dem Viertel, in dem er bei seiner Tochter lebt, vors Haus tritt, ahnt wohl niemand, dass da einer lebt, der mit 40 Buchtiteln in der Deutschen Nationalbi­bliothek vertreten und Mitglied des Internatio­nalen PEN ist.

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