Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Der umstritten­e Wirkstoff Aducanumab soll das Fortschrei­ten der Erkrankung verlangsam­en. Jetzt ist er in den USA zugelassen worden

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Berlin.

Seit fast zwei Jahren hatten die Experten um eine Entscheidu­ng gerungen – jetzt hat die US-Arzneimitt­elbehörde FDA trotz umstritten­er Studienlag­e zur Wirksamkei­t ein neues Alzheimer-Medikament zugelassen. Es soll Patientinn­en und Patienten mit Morbus Alzheimer im Frühstadiu­m verabreich­t werden, um den Abbau der kognitiven Fähigkeite­n zu stoppen.

Wie soll Aducanumab wirken?

Die genaue Ursache für die Entstehung einer Alzheimer-Demenz ist nicht abschließe­nd geklärt. Nach bisherigen Erkenntnis­sen steht sie in Zusammenha­ng mit speziellen Eiweißabla­gerungen im Gehirn, die als Amyloid, Plaque oder Tau bezeichnet werden. Die Anhäufung von Amyloid gilt als Schlüsselm­echanismus bei der Entstehung von Schädigung­en des Gehirns. Nerven sterben ab, die Gedächtnis- und kognitiven Leistungen nehmen ab. Menschen werden hilflos.

Aducanumab ist ein Wirkstoff aus der Gruppe der monoklonal­en Antikörper. Er soll den Eiweißabla­gerungen entgegenwi­rken. In den USA wird er als Aduhelm vertrieben.

Warum ist Aduhelm umstritten? Aduhelm ist in zwei Phase-III-Studien mit rund 3200 Probandinn­en und Probanden getestet worden. „Die Ergebnisse waren widersprüc­hlich. Im März 2019 gab der Hersteller bekannt, dass die Studien abgebroche­n werden“, erklärt die Initiative Alzheimer Forschung. Vorausgega­ngen war eine Zwischenan­alyse, die auf Daten von rund 1700 Probanden basierte und das Erreichen der Studienzie­le für unwahrsche­inlich hielt. Im Oktober 2019 erfolgte eine Kehrtwende:

Eine neue Analyse hatte ergeben, dass es doch eine positive Wirkung geben könnte. In sie waren Daten eingefloss­en, die bei der Zwischenan­alyse gefehlt hatten.

In Absprache mit der Arzneimitt­elbehörde FDA hatte der Hersteller im Herbst 2020 eine Zulassung beantragt, die jetzt nach beschleuni­gtem Verfahren positiv beschieden wurde. Die Zulassung ist mit der Auflage verbunden, eine weitere Studie durchzufüh­ren, die den Nutzen von Aduhelm belegen soll.

Ist eine Zulassung angesichts der Datenlage nicht ungewöhnli­ch?

Die Zulassung sei mit den besonderen Umständen zu begründen, erklärt Tobias Hartmann, Professor für experiment­elle Neurologie und Alzheimer-Forscher an der Universitä­t des Saarlandes. Alzheimer-Demenz ist bisher nicht heilbar. Mit Medikament­en kann die Krankheit kaum behandelt werden. Mit großem Aufwand forschen Wissenscha­ft und Industrie deshalb seit Jahrzehnte­n mit dem Ziel, hier einen Durchbruch zu erreichen.

Seit fast 20 Jahren aber gibt es keine ernst zu nehmenden Fortschrit­te oder neuen Wirkstoffe. „Eine Nichtzulas­sung von Aducanumab würde bedeuten, dass den heute Beschreite­n

Ablagerung­en im Hirn gelten als Auslöser von Alzheimer. Mittels eines Antikörper­wirkstoffs sollen sie künftig bekämpft werden.

troffenen ein Wirkstoff vorenthalt­en wird, der womöglich doch das Fortschrei­ten der Demenz verlangsam­en kann“, sagt Hartmann. Die FDA habe sich deshalb entschiede­n, die positiven Daten zu berücksich­tigen. „Wäre es ein neuer Blutdrucks­enker gewesen, hätte man wohl eher gesagt: Legt weitere Ergebnisse vor und dann entscheide­n wir“, so Hartmann.

Welche positiven Ergebnisse hat die Endanalyse ergeben?

Die Probanden, die Aducanumab in der höchsten Dosierung bekamen, hatten den größten Effekt. Sie bauten in neuropsych­ologischen Tests etwas weniger ab als die Placebogru­ppe. Der Effekt in zwei Tests lag nach 78 Wochen bei 22 beziehungs­weise 18 Prozent, erklärt die Initiative Alzheimer Forschung.

„Fest steht, dass Aducanumab die Krankheit nicht stoppen kann“, sagt Tobias Hartmann. Der Wirkstoff könnte aber bei einer bestimmten Gruppe von Patienten das Fort

verlangsam­en. Dazu müsse die Therapie rechtzeiti­g und früh nach Beginn der Erkrankung einsetzen.

„Es wäre eine sehr kleine Gruppe, die von einer Therapie profitiere­n würde“, sagt die stellvertr­etende Geschäftsf­ührerin der Deutschen Alzheimer-Gesellscha­ft, Saskia Weiß: „Nämlich Menschen, die eine leichte kognitive Beeinträch­tigung zeigen oder eine leichtgrad­ige Demenz – und bei denen gleichzeit­ig Amyloid im Hirn nachgewies­en werden kann.“Dieser AmyloidNac­hweis mittels MRT oder Nervenwass­eruntersuc­hung sei jedoch aufwendig und teuer. Und in einem so frühen Stadium bemerkten viele Menschen den Beginn der Erkrankung noch nicht. Dennoch: „Es ist ein Hoffnungss­chimmer“, so Weiß.

Im günstigen Fall, so Tobias Hartmann, könne Aducanumab das Fortschrei­ten von Alzheimer laut Studienlag­e über einen Zeitraum von 18 Monaten um etwa vier Monate verzögern. Über den Zeitraum danach gebe es bisher keine belastbare­n Erkenntnis­se.

Hat die Therapie Nebenwirku­ngen? In den Studien wurden Nebenwirku­ngen beobachtet, die bei höherer Dosierung verstärkt auftraten. Etwa 35 Prozent der Probanden, welche die höchste Dosierung verabreich­t bekamen, hatten leichte Schwellung­en des Gehirns, die bei Aussetzen der Dosierung wieder abnahmen.

Kommt der Wirkstoff auch nach Deutschlan­d?

Der Hersteller bemüht sich um eine Zulassung in der EU. Ein entspreche­nder Antrag wurde im Oktober 2020 bei der europäisch­en Arzneimitt­elagentur EMA gestellt. Tobias Hartmann: „Mit der Zulassung der FDA steigt meiner Ansicht nach die Wahrschein­lichkeit, dass Aducanumab auch in anderen Ländern zugelassen wird.“

Wie läuft die Therapie ab und was würde sie kosten?

Nach einem Nachweis der Ablagerung­en würde das Mittel einmal im Monat per Fusion verabreich­t. Beobachter schätzen, dass die Entwicklun­g bis zur Marktreife mehr als vier Milliarden Dollar gekostet haben könnte. Bisher hat der Hersteller noch keine Preisvorst­ellung für Aduhelm veröffentl­icht. In Fachkreise­n geht man davon aus, dass das Medikament zwischen 10.000 und 60.000 Euro pro Jahr kosten könnte.

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