Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Wenn eine Marderfall­e Erinnerung­en weckt

Judith Hermanns neuer Roman „Daheim“wird hoch gehandelt

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Es ist wie eine Episode aus einem finnischen Film. Eine Frau arbeitet in einer Zigaretten­fabrik. Abends sitzt sie rauchend auf ihrem Balkon mit Kunstrasen und schaut auf die Leuchtrekl­ame einer Tankstelle. Dort trifft sie eines Tages einen Mann, der sie als Assistenti­n haben will, für seinen Zaubertric­k mit der zersägten Kiste. Der Zauberer und seine Frau wollen sie mit auf Kreuzfahrt nach Singapur nehmen. Daraus wird nichts. Eine Kurzgeschi­chte wäre hier zu Ende. In Judith Hermanns „Daheim“ist es der magische Auftakt für einen Roman, der die deutsche Literaturk­ritik betört. „Sie ist nicht nur in

Einklang mit ihren künstleris­chen Mitteln. Sie ist im besten Sinne und in aller Stille und Eleganz auch auf der Höhe der Zeit“, hieß es im Deutschlan­dfunk über die 50 Jahre alte Autorin.

Viel war schon über Hermann zu lesen, Lobeshymne­n und Verrisse. Sie galt als Stimme des Nach-Mauerfall-Berlins, ihre Bücher als Beweis, dass sich auch deutsche Kurzgeschi­chten sehr gut verkaufen können. Seit

„Sommerhaus, später“, ihrem sensatione­llen Debüt von 1998, sind die Erwartunge­n hoch. Nach Erzählbänd­en erschien im Jahr 2014 ihr erster Roman, „Aller Liebe Anfang“.

„Daheim“spielt gut 30 Jahre nach der Episode mit dem Zauberer. Die namenlose Ich-Erzählerin hat sich von ihrem Mann Otis getrennt, sie schreibt ihm kleine Briefe. Die beiden haben eine Tochter namens Ann, die es in die Ferne zieht. Die namenlose Protagonis­tin lebt am Meer, es ist wohl die Nordsee. Das Haus ist so einsam und windumtost, dass es nachts un- heimlich ist. Ein Tier rumort auf dem Dach. Vielleicht ein Marder. Der Anblick der Marderfall­e weckt Erinnerung­en an die Zauberkist­e.

Am Ende stirbt jemand. Und die Marderfall­e schlägt zu. Es ist ein Buch über das Erinnern, das Auf- brechen und Ankommen, leicht, manchmal lustig, melancholi­sch und poetisch. „Daheim“ist einer der Romane des Jahres. Judith Hermann: Daheim. S. Fischer Ver- lage, 192 Seiten, 21 Euro

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