Thüringische Landeszeitung (Gotha)
Eingesperrt in der DDR
Vor 60 Jahren schloss sich mit der Grenze in Berlin das letzte Schlupfloch für Ausreisewillige
Erfurt/Berlin. Vor 60 Jahren schloss sich das letzte Schlupfloch für DDRBürger, die das Land verlassen wollten. Mitten durch Berlin wurde am 13. August 1960 mit dem Mauerbau begonnen. Zuvor wurde bereits seit mehr als einem Jahrzehnt die mehr als 1400 Kilometer lange innerdeutsche Grenze von DDR-Seite immer undurchlässiger gemacht. Hunderte Menschen fanden bis 1989 an der Mauer, der innerdeutschen Grenze und auf der Ostsee bei Fluchtversuchen den Tod. Derzeit wird noch erforscht, wie viele Menschen am mehr als 10.000 Kilometer langen Eisernen Vorhang von der Barentssee bis zum Schwarzen Meer ihr Leben ließen.
Die Geschichte der deutschen und europäischen Teilung zeige nach Ansicht von Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke), dass sich Freiheit und Selbstbestimmung nicht einsperren lassen. Auch deshalb sei es wichtig, an den Mauerbau der DDR vor 60 Jahren und die Öffnung der innerdeutschen Grenze 1989 zu erinnern, erklärte Ramelow. Es gehe dabei auch um die Erinnerung an die Menschen, „die an der innerdeutschen Grenze den Wunsch nach Freiheit mit dem Leben bezahlten sowie der vielen Menschen in Ostdeutschland, die im Jahr 1989 das sinnfälligste Symbol der Teilung stürzten und damit den Weg zur Einheit ebneten“.
Es gelte heute, die friedliche Kraft der Maueröffnung zu nutzen, um
Kalte und Heiße Kriege zu verhindern, so Ramelow. Es sei weiterhin Auftrag, dem Vergessen und der Verharmlosung entgegenzuwirken. Im Bewusstsein bleiben müsse als Mahnung ein geteiltes Deutschland und ein Europa mit viel Stacheldraht und Grenzen, die den ehemaligen Osten vom ehemaligen Westen trennten. „Wir erinnern an getrennte Familien und Geschwister und an eine Zeit, in der Rechtsstaatlichkeit und demokratische Verhältnisse kein normaler Alltag waren.“Die Geschichte lehre, dass Freiheit, Frieden und Selbstbestimmung nicht selbstverständlich seien.
„Eine Grenze, die heute Deutschland und Europa eint, ist nicht nur ein Mahnmal der jahrzehntelangen Teilung, sondern auch ein Symbol für ein gemeinsames Europa, das Grenzen überwinden kann“, sagte der Thüringer Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Peter Wurschi. Umso wichtiger sei es, dass die ehemalige innerdeutsche Grenze als „Grünes Band“erhalten bleibt, „um dort an die Schicksale und Geschichten der Teilung Deutschlands und Europas zu erinnern“.
Mit einer zentralen Gedenkveranstaltung vor der Kapelle der Versöhnung auf dem früheren Mauerstreifen wird in Berlin an den Bau der Mauer vor 60 Jahren erinnert. Neben Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) kommen zwei Zeitzeuginnen und Opfervertreter zu Wort.
Die Mauer in Berlin, die innerdeutsche Grenze und die Grenzen anderer Ostblockstaaten wurden über Jahrzehnte zur Todesfalle für Menschen, die in die Freiheit wollten. Unter den Getöteten entlang der damaligen Grenze zur Bundesrepublik sind meist junge Männer und Frauen, die es nicht mehr aushielten in der DDR. Am schlimmsten war es kurz vor dem Ende: Das Jahr 1989 mit seinen großen Fluchtbewegungen führte zu mehr Todesfällen als etwa in der ersten Monaten gleich nach dem Mauerbau. Das macht Jochen Staadt vom Forschungsverbund SEDStaat an der Freien Universität Berlin deutlich.
Der Forschungsstand zu den Todesfällen an der innerdeutschen Grenze und der Berliner Mauer ist ziemlich weit fortgeschritten. Wissenschaftler, aber auch andere Interessierte haben sich verstärkt seit 1990 des Themas angenommen. Regionalhistoriker oder ehemalige Bundesgrenzschützer untersuchten Fälle. Familien wollten wissen, was mit ihren Angehörigen im Grenzgebiet geschehen ist. Akteneinsicht wurde zwischenzeitlich möglich. Zeitzeugen aus dem Grenzgebiet konnten endlich offen darüber reden, was sie erlebt, gehört und gesehen hatten. Es kam zu einigen Prozessen. „Zusammenfassend betrachtet sind wir über viele dieser Ereignisse ganz gut informiert“, macht Staadt deutlich.
Anders sieht es in den Fällen aus, in denen Menschen über die Ostsee fliehen wollten. Schwimmend gelang das nur wenigen. Das Meer wurde wohl öfter als bisher belegt zum Grab. „Damit befassen sich jetzt im Forschungsverbund Kolleginnen und Kollegen in Greifswald“, sagt Staadt.
Zudem verweist der Forscher auf „die großen Lücken“, die sich auf „die Grenzen in den sogenannten Bruderländern der DDR“erstrecken. Der sogenannte Eiserne Vorhang hatte eine Länge von etwa 10.000 Kilometern und reichte von der Barentssee bis zum Schwarzen Meer. „Wir haben hier noch 300 offene Verdachtsfälle“, denen seine Kolleginnen und Kollegen vor Ort nachgehen, auch weil sie mittlerweile „die Ermittlungsakten oder auch Vernehmungsprotokolle einsehen können“, sagt Staadt.
Unter den Flüchtenden waren mehr Arbeiter als Akademiker Würden alle Fälle – an der innerdeutschen Grenze, an der Berliner Mauer, in der Ostsee und an den Grenzen der damaligen Bruderländer – zusammengefasst, „kommt man auf eine Größenordnung von über 800 Personen, die im Zusammenhang mit dem Grenzregime ums Leben gekommen sind“, sagt der Forscher. Hierzu zählen Grenzgänger, Flüchtende, aber auch Grenzer, die im Dienst das Leben verloren – oder es sich während ihrer Zeit an der Grenze nahmen. Resultierend aus dem Druck, der auf den Soldaten lastete. Letzteres war ein Tabuthema zu DDR-Zeiten.
Die Todesursachenforschung ist schwierig, besonders dann, wenn es sich um Wasserleichen handelt. „Das war schon beim innerdeutschen Grenzprojekt so“, macht Staadt die Herausforderung deutlich. Bei fast einem Dutzend jener Menschen, die aus Binnengewässern an der Grenze geborgen wurden, konnten nicht letztgültig die Todesursache geklärt werden. Die DDR habe versucht, das Motiv Flucht bei Todesfällen zu verschleiern, macht Staadt deutlich – und nennt den Fall eines jungen Mannes, dessen Vater Mitglied des Nationalen Olympischen Komitees der DDR war. „Die Leiche wurde an der dänischen Küste gefunden.“Bekleidet war der junge Mann mit einem Tauchanzug. Die DDR erklärte den Dänen gegenüber, es könne sich nur um einem Tauchunfall handeln. Die Dänen allerdings wiesen darauf hin, dass der Taucher Sozialversicherungsunterlagen, Pass und weitere wichtige Unterlagen mit sich geführt habe. „Daraufhin musste die DDR-Botschaft den Fluchtfall eingestehen“, so Staadt.
Mancher Todesfall scheint geradezu schicksalhaft, auch wenn er nicht in direktem Zusammenhang mit einer Flucht, wohl aber mit der Suche nach Freiheit steht. Staadt schildert, dass ein junger Mann zunächst mit einem Freund in Polen einen erfolglosen Fluchtversuch über die Ostsee unternommen hatte. „Dann fuhr er nach Bulgarien in den Urlaub und wurde ertrunken aufgefunden.“Anders als angenommen sei der Tod aber einem Tauchunfall zuzuschreiben. Staadt formuliert es so: „Der Mann hatte Fluchtabsichten, ja, aber in dem speziellen Moment, als er sein Leben verlor, war er nicht auf der Flucht.“
Der Forschungsverbund SEDStaat hat sich in den vergangenen Jahren an der innerdeutschen Grenze mit den Todesfällen befasst und dabei den Zeitraum von 1949 bis 1989 – also die gesamte Zeit der 40 Jahre DDR – untersucht. In den ersten Jahre, sagt Staadt, wurden vor allem Grenzgänger Opfer. Es handelte sich meist um Männer und Frauen mittleren Alters, die über die Grenze gingen, um Verwandte zu besuchen oder Waren kaufen beziehungsweise tauschen zu wollen. Manche waren auf dem Weg zur Arbeit. „Die innerdeutsche Grenze wurde immer mehr abgeriegelt und bewacht“, verweist der Forscher auf die hohen Zahlen beim Schusswaffengebrauch bereits 1950/51. „Das waren aber überwiegend Warnschüsse“, sagt er. Immer wieder kommt es schon zu Todesfällen.
Angehörige erfuhren kaum etwas über die Todesumstände Abgeschlossen sind selbst an der gut erforschten innerdeutschen Grenze bald 32 Jahre nach Öffnung der Mauer nicht alle Fälle. „Wir haben jetzt von Familienangehörigen zwei Hinweise erhalten, denen wir nachgehen. Es deutet vieles darauf hin, dass jemand bei einem Fluchtversuch verletzt wurde und kurz darauf im Krankenhaus verstorben ist. Den Familien wurde aber andere Gründe für den Tod genannt“, sagt Staadt.
Von Verzweiflung geprägt ist der Fall eines jungen Mannes, der in den End-80ern an die Grenze ging und eine Kleinkaliberwaffe bei sich führte. Als er entdeckt und eingekesselt wurde, schoss er sich offenbar angesichts der Ausweglosigkeit in die Brust und starb später im Krankenhaus.
Gerade bei den jüngeren Fällen spielen Zeitzeugen eine wichtige Rolle: Befragt werden Freunde und Verwandte, ob es erkennbare Fluchtabsichten gab. Familien wurden über die genauen Todesumstände getäuscht. „Es hieß zum Beispiel nur: Unfall in einem militärischen Sperrgebiet.“Ursächlich für unbewältigte Trauer und anhaltende Wut sei auch, dass Hinterbliebene damals weder den Toten sehen noch über das Geschehene sprechen durften. Särge wurden verschraubt, Grenztote oft eingeäschert; in der Todesanzeige durfte nichts auf die Todesursache hinweisen. Die Pfarrer hatten über das eigentliche Geschehen zu schweigen. Bei Beerdigungen war die Stasi vertreten, sagt Staadt. „Für die Angehörigen war das alles sehr schwer.“Staadt weiß von Betroffenen, die glaubten, der
Tod ihres Familienmitglieds sei ihnen nur vorgetäuscht worden und der Geflohene lebe in Westdeutschland.
Nach dem Mauerfall wurden zwar einige Todesschützen vor Gericht gebracht: „Die Rechtssprechung im wiedervereinigten Deutschland im Zusammenhang mit den Toten an der Grenze war für Hinterbliebene aber teilweise schwer zu verstehen“, weiß er. Das Strafmaß enttäuschte manche. Andere hatten sich ein Schuldeingeständnis durch den jeweiligen Täter erhofft …
Eigentlich wollte der Forschungsverbund SED-Staat Ende 2022 seine Arbeit mit Blick auf die osteuropäische Grenzen abschließen. Doch die Pandemie machte den Zugang zu Archiven über Monate unmöglich, Zeitzeugeninterviews, die bereits geplant waren, mussten verschoben werden. Nun hofft Staadt, dass sie ihre Arbeit um ein Jahr verlängern können. „Dann wären wir Ende 2023 fertig“, sagt er.
Die Aufklärung der Todesfälle an der Grenze durch den Forschungsverbund SED-Staat ist Staadt zufolge nicht nur mit Blick auf jeden Einzelfall wichtig, sondern soll auch der politischen Bildung dienen. 80 Prozent derer, die raus wollten, waren unter 35 und gehörten dem an, was die DDR ihre herrschende Klasse nannte: Es flohen vorrangig junge Arbeiter, Handwerker, Bauern… Seltener Akademiker.
„Gerade einer heute nachwachsenden Generation sollte möglichst präzise und nachvollziehbar dokumentiert werden, was passiert ist.“Staadt setzt auf Lehrerinnen und Lehrer, die auf personenbezogene Informationen zurückgreifen, um zu zeigen, was im SED-Staat geschah, wenn ein junger Mensch das Land verlassen wollte, was auf legalem Wege unmöglich war: Da habe jemand notgedrungen „sein Leben gewagt, um aus dieser DDR rauszukommen.“Eine Lehre aus der Geschichte laute: Gerade junge Menschen seien selbst mit Mauern und Stacheldraht nicht von der Idee abzuhalten, die Flucht zu versuchen. Staadt schlägt die Brücke in die Gegenwart: „Die Teilung Europas hat letztendlich keine Akzeptanz gefunden.“
„Wir haben entlang des Eisernen Vorhangs noch 300 offene Verdachtsfälle.“
Jochen Staadt Forschungsverbund
SED-Staat
Foto: Bernd Wannenmacher, FU Berlin