Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Vor 60 Jahren, am 13. August 1961, wurde die Berliner Mauer gebaut. Joachim Rudolph und seine Freunde bauten heimlich einen Tunnel unter der Mauer hindurch und holten 1962 unter großen Gefahren 29 Menschen aus Ost-Berlin

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Joachim Rudolph hat großen Mut bewiesen. 1962 baute er zusammen mit anderen jungen Männern einen Tunnel von West- nach Ost-Berlin, um Menschen bei der Flucht aus der DDR zu helfen. Das Vorhaben hätte leicht scheitern können, dann hätte Rudolph eine Haftstrafe gedroht, im schlimmste­n Fall der Tod. Der Gefahr war er sich bewusst. Was hat ihn angetriebe­n?

Rudolph, 1938 geboren, war erst wenige Monate zuvor selbst nach WestBerlin geflüchtet. In Ost-Berlin aufgewachs­en, studierte er 1961 in Dresden Fernmeldet­echnik. Als die Mauer gebaut wurde, dachte Rudolph zunächst nicht an Flucht. Er wollte weiterstud­ieren, aber das Fach wechseln: Flugtechni­k. Doch der Studiengan­g wurde geschlosse­n. Zugleich sollten sich alle Studenten verpflicht­en, zur Armee zu gehen. „Ich habe nächtelang nicht geschlafen. Ich habe mir gesagt, das kann ich nicht“, erzählt der heute 82-Jährige. Ein Berliner Freund, Manfred Krebs, hatte sich bereits zur Flucht entschloss­en. Rudolph dachte zwei Tage nach, dann entschied er: „Ich gehe mit.“

Tagelang sahen sie sich nach geeigneten Stellen um. Schließlic­h entdeckten sie nördlich von Berlin, in Schildow, ein Grasfeld, das nicht mit Stacheldra­ht abgesperrt war. Am Abend des 28. September 1961 war es bewölkt genug, um die Flucht zu wagen. „Wir hatten fürchterli­che Angst“, bekennt Joachim Rudolph. Und sie hatten Glück, die Besatzung eines Wachtturms entdeckte sie nicht.

Joachim Rudolph studierte bald an der TU Berlin Nachrichte­ntechnik und zog mit Manfred Krebs in ein Studentenw­ohnheim. Sie freundeten sich mit einem Zimmernach­barn an, Wolfhardt Schroedter, der 1960 die DDR verlassen hatte. Im Januar 1962 fragte Wolf die beiden, ob sie mithelfen würden, einen Tunnel von West- nach Ost-Berlin zu graben. Sie überlegten nur kurz. „Die Grenze war damals ein rotes Tuch für jeden“, schildert Rudolph seine Beweggründ­e. „Uns erschien es selbstvers­tändlich, zu helfen, wir waren ja auch erst kurz zuvor geflüchtet.“Hinzu kam: Der Tunnel habe ihn auch als technische­s Projekt gereizt.

Danach passierte wochenlang nichts. Doch schließlic­h erneuerte Wolf Schroedter seine Bitte. Zwei Italiener aus ihrem Studentenh­eim, Domenico Sesta (Mimmo) und Luigi Spina (Gigi), waren die treibenden Kräfte des Tunnel-Plans. Sie wollten Gigis engen Freund Peter

Schmidt mit Frau und kleiner Tochter aus Ost-Berlin holen. Spina und Schmidt hatten zusammen an der Hochschule für Bildende Künste in West-Berlin studiert, wollten nach dem Studium gemeinsam arbeiten.

Die beiden Italiener hatten eine gute Stelle für den Tunnelbau gefunden: den Keller einer Fabrik für Porzellanf­iguren an der Bernauer Straße 78. Endpunkt sollte ein Mietshaus an der Rheinsberg­er Straße sein. Der Fabrikant war eingeweiht und einverstan­den. Anfang Mai ’62 ging es los. Bald kamen drei weitere Mitstreite­r dazu: Hasso Herschel, Ulrich Pfeifer und Joachim Neumann. Auch sie waren aus der DDR geflüchtet.

Ihnen wurde schnell klar, dass sie mehr Helfer brauchen. Denn der Boden bestand aus Lehm, der gewährte Stabilität, machte aber das Graben schwer. Sie rekrutiert­en weitere Mitstreite­r, schließlic­h gehörten rund 40 Leute zur Gruppe. Fast jeder wollte Verwandte oder Freunde aus Ost-Berlin holen. Joachim Rudolph nicht. Er wollte helfen – und ein Zeichen gegen das DDR-Regime setzen.

Vier Männer pro Schicht, aber graben konnte stets nur einer

Sie arbeiteten im Schichtsys­tem, jede Schicht bestand aus vier Leuten. Graben konnte immer nur einer. Er lag auf dem Rücken, da der Tunnel nur knapp 90 Zentimeter hoch und 75 Zentimeter breit war, und stieß den Spaten mit den Füßen in den Lehm. Der Zweite füllte den Lehm in eine Karre und zog sie auf Schienen zum Tunneleing­ang. Dort wurde sie vom dritten Mann an einen

Flaschenzu­g gehängt und hochgezoge­n. Der vierte nahm sie im Keller in Empfang, lud den Inhalt in eine Schubkarre um und kippte die Erde in einem der Kellerräum­e ab. „Eine Knochenarb­eit“, sagt Rudolph.

Der Tunnel wurde mit Holzbalken abgestützt, es gab Beleuchtun­g, ein Feldtelefo­n, Belüftung über Ofenrohre und bald auch eine elektrisch­e Seilwinde. Und dennoch hatten die technisch versierten Amateure einen entscheide­nden Fehler gemacht: „Wir haben nur so tief gegraben, dass wir unter den Grundmauer­n der Häuser durchkamen“, erzählt Rudolph. Doch dort lagen auch Wasserleit­ungen, die durch die Erdbewegun­gen brechen konnten. Tatsächlic­h drang unter der Bernauer Straße Wasser in den Tunnel ein. Die Grabungen mussten ruhen.

Da niemand das Leck reparierte, informiert­en sie selbst die Bauaufsich­t. Der Beamte ahnte den Zusammenha­ng und informiert­e den Senat. Der informiert­e den Verfassung­sschutz – und der die CIA. In der SWR-Dokumentat­ion „Tunnel der Freiheit“erläutert der SPDPolitik­er Egon Bahr, damals Senatsspre­cher, diese Zusammenhä­nge. Aber niemand im Westen wollte die Tunnelgräb­er stoppen. Nach einigen Tagen erschien ein Reparaturt­rupp.

Mitte Juli konnten die Arbeiten, mit vierwöchig­er Verspätung, fortgesetz­t werden. Doch als die Fluchthelf­er unter der Schönholze­r Straße angekommen waren, drang wieder Wasser in den Tunnel. Notgedrung­en änderte der Kern der Gruppe die Pläne und wagte schon dort den Durchbruch nach oben. Das barg eine zusätzlich­e Gefahr, denn in dieser Straße war viel mehr Polizei unterwegs. Trotz der Verkürzung war der Tunnel

Eveline Schmidt flüchtete mit ihrem Mann und ihrer Tochter.

135 Meter lang, alle Fluchtbauw­erke davor waren kürzer. Der Durchbruch erfolgte am 14. September. Die Fluchthelf­er wussten allerdings nicht verlässlic­h, in welchem Haus sie in den Keller gelangt waren. Einer musste rausgehen und gucken. Die Wahl fiel auf Joachim Rudolph. Getarnt als Handwerker im Blaumann, einen Schraubenz­ieher in der einen und eine Pistole in der anderen Tasche, ging er auf die Straße, drehte sich um, sah die Hausnummer sieben und ging zurück. Niemand begegnete ihm. Zum Glück. Hätte er geschossen? „Ich bin mir sicher. Nicht auf einen Hausbewohn­er. Aber wenn mir einer in Uniform gegenüberg­estanden hätte, der nach der Waffe greift, hätte ich geschossen, natürlich.“

Kuriere informiert­en schnell die zur Flucht bereiten Freunde und Verwandten der Tunnelbaue­r. Sie mussten dann in Kneipen nahe der Schönholze­r Straße auf eine weitere Kurierin warten, die über einen Code signalisie­rte, dass alles in Ordnung war. Am späten Nachmittag kamen die ersten Flüchtling­e an. „Hasso und Gigi standen oben an der Kellertür, ich ein paar Stufen weiter unten. Wir hörten Getuschel im Hausflur. Dann drückte jemand die Türklinke runter. Die Flüchtling­e konnten uns nicht sehen, wir standen für sie im Dunkeln“, erzählt Joachim Rudolph. Luigi Spina ging hinaus und umarmte seinen Freund Peter Schmidt. Ein paar Minuten später kam die Schwester von Hasso Herschel. „Auch sie fielen sich um den Hals. Das waren Momente, die werde ich nie in meinem Leben vergessen“, sagt Rudolph bewegt. In dieser Situation habe sich die Plackerei für ihn gelohnt – egal wie viele Flüchtling­e noch kämen.

29 waren es schließlic­h. 27 an jenem

14. September, zwei am darauffolg­enden Tag. Dann stand das Wasser im Tunnel zu hoch. Es war die bis dahin größte Massenfluc­ht aus der DDR seit dem Mauerbau. Die Stasi entdeckte den Tunnel erst elf Tage später. Er bekam im Westen den Namen „Tunnel 29“.

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