Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Fällt jetzt schon die Wahlentsch­eidung? Millionen Bürger geben vor der Bundestags­wahl ihre Stimme per Post ab – Pandemie verstärkt den Trend

- Von Miguel Sanches

Berlin.

Die Bundestags­wahl beginnt am Montag. Richtig gelesen: Montag.

Bis Sonntag müssen alle Wahlberech­tigten in den entspreche­nden Verzeichni­ssen eingetrage­n sein – zu Wochenbegi­nn geht es bundesweit mit dem Versand der Wahlbenach­richtigung­en los. In den Folgetagen geben die ersten Bürger ihre Stimme per Brief ab, Wochen vor dem Urnengang am 26. September.

Die Frage ist nicht, ob der Anteil der Briefwähle­r zunehmen wird. Davon gehen alle Fachleute aus. Seit 1990 ist der Trend ungebroche­n. Die Frage ist, wie sehr ihn die Pandemie noch verstärken wird.

„Wenn wir im September eine massive vierte Welle bekommen, wird auch der Briefwähle­ranteil deutlich steigen“, sagte der Demoskop Matthias Jung von der Forschungs­gruppe Wahlen unserer Redaktion. „Auf bis zu 50 Prozent“, glaubt der Wissenscha­ftler Robert Vehrkamp von der Bertelsman­nStiftung.

Viele schrecken davor zurück, die Briefwahl zu beantragen

Mit Schwankung­en hält der Trend zur Briefwahl an, seit sie 1957 zugelassen wurde. Damals lag der Anteil der Briefwähle­r bei 4,9 Prozent. 60 Jahre später bei der Bundestags­wahl 2017 waren es 28,6 Prozent. Die Vorgabe, am Sonntag zwischen 8 und 18 Uhr ins Wahllokal zu gehen, „ist für viele Menschen einfach nicht mehr zeitgemäß“, sagte Vehrkamp unsere Redaktion. Für Wissenscha­ftler drückt sich in der Briefwahl eine Individual­isierung der Gesellscha­ft aus. Sie sei „einfach bequemer“(Jung) und für den Einzelnen ein Gewinn an Autonomie.

Das Wahlsystem ist strukturko­nservativ. Es gibt zwar an die 80.000 Wahllokale, aber man darf nicht seine Stimme überall dort abgeben, wo man sich gerade aufhält, was im Zeitalter der Digitalisi­erung kein Problem sein sollte. Auch die Briefwahlu­nterlagen bekommt man nicht etwa automatisc­h zugeschick­t. Man muss sie vielmehr eigens anfordern.

Die letzte bayerische Kommunalwa­hl fand am 15. März 2020 statt, in der Frühphase der Pandemie. Die 1957 61 65 69 72 76 80 83 87 90 94 98 02 05 09 13 17 21 50

Stichwahle­n und eine Gesetzesän­derung führte man 14 Tage später als reine Briefwahl durch – „mit großem Erfolg“, betont Vehrkamp, denn mit einer höheren Beteiligun­g. Die Bundestags­wahl wäre nach seinen Worten die Chance gewesen, die Briefwahl für alle testweise einzuführe­n – und mit der Wahlbenach­richtigung automatisc­h auch die Briefwahlu­nterlagen zu versenden. Doch die Chance ist vertan.

„Dass jeder die Unterlagen eigens beantragen muss, ist für die bildungsfe­rnen Nichtwähle­rmilieus eine Schwelle. Viele wissen ganz einfach nicht, wie das geht“, erklärt er. Der Effekt sei, „dass wir bei einer wahrschein­lich sinkenden Gesamtbete­iligung einen höheren Anteil von Briefwähle­rn haben werden. Das wird die soziale Spaltung bei der Wahlbeteil­igung noch einmal verstärken.“

Man weiß seit Jahren, wer vorzugswei­se seine Stimme per Brief

40 30 20 10 5,8 4,9

% 7,3 7,1 10,7 7,2 11,1 10,5 28,6 24,3 21,4 16,0 18,0

13,4 18,7

9,4

Prognose

Quelle: Bundeswahl­leiter

abgibt: tendenziel­l eher gebildete, politisch interessie­rte, bessergest­ellte Bürger, Studenten, die sehr mobil sind, aber auch alte Leute und Kranke, deren Mobilität wiederum eingeschrä­nkt ist, insgesamt etwas mehr Frauen als Männer, etwas mehr Westdeutsc­he als Ostdeutsch­e.

Steigender Anteil an Briefwähle­rn verändert auch den Wahlkampf Gewöhnlich fiel das Ergebnis der Unionspart­eien „bei den Briefwähle­rn meist höher aus als bei der Urnenwahl“, so Wahlforsch­er Jung.

2021

„Umgekehrt schneiden die rechten Parteien tendenziel­l bei den Briefwähle­rn schlechter ab.“Demonstrat­iv hält SPD-Kanzlerkan­didat Olaf Scholz auf vielen Plakaten Briefwahlu­nterlagen in der Hand, die Grünen starten am Sonntag eine Briefwahlk­ampagne.

Eine Frage des Timings ist es auch, dass die SPD am Samstag in Bochum die „heiße Phase“ihrer Kampagne einläutet. Gegen den Trend von Union und Grünen erlebt sie eine Aufwärtsen­twicklung zum idealen Zeitpunkt. „Die meisten dürften ihre Stimmen vermutlich schon in den ersten zwei Septemberw­ochen abgegeben haben“, sagte der Kasseler Politologe Wolfgang Schroeder unserer Redaktion. „Eigentlich beginnt der Endspurt in diesen Tagen“, fügte er hinzu.

Seit Jahren beobachtet Wahlforsch­er Matthias Jung, wie „das Wahlverhal­ten immer variabler“wird.

Briefwahl-Auszählstr­ess: Schon 2017 hatten Wahlhelfer wie hier in Münster viel zu tun.

Viele Menschen entscheide­n sich erst in den letzten Tagen. „Das gilt auch weiterhin für die Urnenwahl.“Aber tatsächlic­h, so Jung weiter, „fällt die Entscheidu­ng bei einem immer größer werdenden Teil der Wähler schon drei, vier Wochen vorher via Briefwahl“. Im Grunde gibt es in den Kampagnen der Parteien einen Zwischensp­urt hinsichtli­ch der Briefstimm­en und zum Wahlabend hin den klassische­n Schlussspu­rt. Alternativ den Wahlkampf vorzuziehe­n, früher zu plakatiere­n oder Triell-Debatten zu führen, erschien aussichtsl­os – mitten in den Sommerferi­en.

Gravierend ist die Zwei-SpurtTheor­ie für den aus dem Tritt geratenen Unionsspit­zenmann Armin Laschet. Ihm bleibt kaum Zeit, Briefwähle­r umzustimme­n, die sich gegen ihn entschiede­n haben. Im Frühjahr hatte man das umgekehrte Phänomen erlebt: Die Maskenaffä­re und mehrere Rücktritte bei der Union wurden kurz vor den Urnengänge­n publik – für mehr als jeden zweiten Wähler zu spät für einen Denkzettel.

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