Thüringische Landeszeitung (Gotha)
Wolkig mit Aussicht auf Überraschungen
Beflügelt von der Liebe zu seiner Freundin Anna, die ihn auf den langen Weg nach Japan handgeschriebene Briefe mitschickte, wurde Geher Jonathan Hilbert Anfang August in Sapporo immer schneller. Erst warf er auf den letzten Kilometern seinen Kühlschal weg, dann die Kappe, und dann war sie vollbracht, die größte Sensation aus deutscher Sicht dieser um ein Jahr verschobenen Sommerspiele.
41 Jahre nach dem OlympiaTriumph von Hartwig Gauder in Moskau, 29 Jahre nach dem Bronze-Coup des heutigen Bundestrainers Ronald Weigel in Barcelona gab es wieder eine Silbermedaille für die deutschen Geher. Der aus Mühlhausen stammende Hilbert, angesprochen auf die Unterstützung seiner Anna zu Tränen gerührt, hatte einmal mehr für eine faustdicke Überraschung durch Thüringer Leichtathleten gesorgt.
Die sind bei Sommerspielen, trotz der Sorgen, die es nicht nur im Freistaat aktuell gibt, übrigens gar nicht so selten, wie man meinen sollte. 2016 in Rio de Janeiro sorgte ein gewisser Thomas Röhler aus Jena für den Olympiasieg im Speerwerfen. Zugegeben, sein Gold-Wurf von Brasilien war nicht ansatzweise so überraschend wie Hilberts Silber-Gang von Japan, unerwartet war er aber allemal.
Schließlich hatte Röhler einen Monat vorher bei der EM in Amsterdam auch aufgrund einer Verletzung noch gepatzt. Noch wesentlich sensationeller aus Sicht der Leichtathletinnen und -athleten aus Thüringen waren aber die Spiele 2000 in Sydney. Dort sorgten der gerade einmal 22-jährige Bad Frankenhäuser Nils Schumann über 800 Meter und die Geraerin Heike Drechsler, mit 35 Jahren im Herbst ihrer Weitsprung-Karriere, für goldene Überraschungen.
Goldig oder silbrig glänzt die Zukunft der Thüringer Leichtathletik, auch wenn Hilbert und Röhler noch aktiv sind, aber nicht. In der nationalen und internationalen Spitze und Breite wurde der Bestand an Sportlern in dieser Saison deutlich ausgedünnt. Den Sprung nach Tokio schaffte neben Hilbert nur Sprint-Altmeister Julian Reus. Der immer noch schnellste Deutsche über 100 Meter aller Zeiten, der aus Hanau stammt, aber in Erfurt lebt, hing nach dem sechsten Platz mit der 4 x 100-m-Staffel seine Schuhe ebenso an den Nagel wie zuvor der Geraer Sprinter Robert Hering, Olympiateilnehmer 2016, oder der für Erfurt startende fränkische Hindernisläufer Martin Grau, der 2019 noch bei der WM in Doha dabei war.
Auch für Hilbert und Röhler hängen perspektivisch die Trauben noch höher. Der Geher muss die Umstellung auf die 35 Kilometer schaffen, weil seine 50 Kilometer
2024 in Paris nicht mehr olympisch sein werden. Und dass dem Jenaer Speerwerfer nach zwei Jahren fast ohne Wettkämpfe aus verschiedenen Gründen der Sprung zurück in die Weltspitze gelingt, ist kein Automatismus, auch wenn er über genügend Potenzial verfügt.
Der Blick geht auch deswegen einmal mehr auf jene, die nachoder zurückkommen. Mit dem 23Jährigen Julian Wagner vom LC Top Team Thüringen, Dritter am Wochenende beim Istaf in Berlin über 100 Meter, scheint der ReusNachfolger immerhin schon gefunden. Und mit seinem Teamkollegen Luis Brandner, der in diesem Jahr mit dem deutschen Quartett bei der U23-EM in Tallinn über
4 x 100 Meter einen Europarekord aufstellte, wartet ein weiterer Sprinter auf den großen Durchbruch. Auch mit Speerwerfer Maurice Voigt (LG Ohra Energie), deutscher Meister der U23, sowie den beiden U20-EM-Vierten Kevin Brucha (LC Jena/Weitsprung) und Serina Riedel (TSV Zeulenroda/Siebenkampf) hat Thüringen weitere heiße Eisen für die Zukunft im Feuer. Zumal auch der aus Altenburg stammende 25-jährige Geher Karl Junghannß (Erfurter LAC),
2017 bei der WM in London über
50 Kilometer 13., noch nicht abgeschrieben werden darf.
Freilich ist der Sprung aus der internationalen Spitze im Juniorenbereich in die nationale oder gar internationale Spitze im Erwachsenenbereich kein Selbstläufer und er wird nicht jedem gelingen. Die Aussichten der Thüringer Leichtathletik sind deswegen wolkig, aber immer mit der Aussicht auf sonnige Überraschungen.