Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Erfolgreic­h scheitern Vom unzufriede­nen Studenten zum fitten Lehrling: Von Abbrechern lässt sich einiges lernen

- Von Elena Rauch

Erfurt.

Nach dem Abi wird studiert. Was sonst? So erwarteten es die Eltern, so selbstvers­tändlich schien es ihm selbst. Also schrieb sich Robin Arnold im Herbst nach seinem Abitur 2019 in Mühlhausen an der Universitä­t Jena ein: Englisch und Geografie auf Lehramt.

Das erste Semester lief noch gut. Dann kam Corona. Sich in der Einsamkeit des Zimmers stundenlan­g durch Lehrstoff arbeiten? Dafür fehlte der Antrieb. Online-Vorlesung? Die Aufzeichnu­ng kann man sich später anschauen, irgendwann … Wenn Prokrastin­ieren ein Fach wäre, gebe es volle Punktzahl. Je höher der Berg der aufgeschob­enen Dinge wuchs, desto tiefer wurde das Loch, in das Robin Arnold fiel.

Er hatte, bemerkt er, viel Zeit zum Grübeln. Vielleicht waren es die falschen Fächer. Er wechselte zu Politikwis­senschafte­n und Humangeogr­afie im Nebenfach, viel verändert hat das auch nicht, er blieb Student wider Willen.

Mit der Option, das Studium hinzuwerfe­n, hat er lange gekämpft. Die Enttäuschu­ng der Eltern, die Meinung der Freunde, die fast alle studierten, das Selbstbild: Wer will sich schon Versagen eingestehe­n?

Selbstzwei­fel, verpatzte Prüfungen und neue Anfänge

Als Robin Arnold sich nach vier Semestern endlich durchrang, die Uni zu verlassen, war es wie eine Befreiung. Er merkte es daran, wie die Lethargie verschwand, mit welcher Energie er sich später auf die Suche nach einem Ausbildung­splatz stürzte: Veranstalt­ungskaufma­nn. Das hatte ihn schon immer interessie­rt, eigentlich.

Das Gespräch mit den Eltern lief leichter, als er dachte. „Tu, was dich glücklich macht“, hatten sie gesagt. Nach 24 Bewerbunge­n und sieben Vorstellun­gsgespräch­en unterschri­eb Robin Arnold im März einen Ausbildung­svertrag in Magdeburg.

Robin Arnold ist natürlich nicht der Einzige, dem es mit seinem Studium so erging. Aber nicht viele stellen sich vor ein Publikum und erzählen davon. „Fuck Up Night“lautet der deutliche Titel dieses Formats, zu dem die Industrie- und Handelskam­mer (IHK) Erfurt und die Handwerksk­ammer Erfurt in dieser Woche einluden: eine Bühne, ein Mikrofon und viele Geschichte­n: Über Selbstzwei­fel, nervöse Eltern, verpatzte Prüfungen, Abbrüche und neue Anfängen. Auch über die Frage, was Erfolg bedeutet und was Glück. Erzählt mit ausgeprägt­em Sinn für Selbstiron­ie; Humor kann besser sein als jede therapeuti­sche Sitzung.

Entstanden ist dieses Format vor einigen Jahren in Mexiko, als glücklose Unternehme­r öffentlich von ihrem Scheitern berichtete­n. Inzwischen haben sich Fuck-Up-Nächte in ihren Variatione­n auch in Thüringen schnell verbreitet. Es gibt, darüber haben wir berichtet, auf diesem Gebiet, Redebedarf. Dabei hat die Leistungsg­esellschaf­t ein Problem, über Probleme zu sprechen.

In Erfurt ist es die Zweitaufla­ge, die gezielt den Studienabb­ruch durchbuchs­tabiert. Im Jahr 2020 haben 27 Prozent der Erststudie­renden das Studium abgebroche­n, erklärt Sebastian Vogelsberg von der Handwerksk­ammer. Am häufigsten geschmisse­n: Geisteswis­senschaft, Mathematik und Naturwisse­nschaften, im Durchschni­tt im sechsten Semester. Die falsche Wahl, familiäre Probleme, Leistungsd­ruck, Krankheit, auch finanziell­e Sorgen: Die Gründe, die Vogelsberg bei seinen Beratungen begegnen, sind sehr unterschie­dlich. „Wir wollen Scheitern enttabuisi­eren“, beschreibt er die Intention solcher Abende. Zeigen, wie sich hinter der zugeworfen­en Hörsaaltür neue Wege auftun können. Wird das Wort „Scheitern“durch „zweiter Anlauf“oder „Korrektur“ersetzt, klingt das schon anders. Der falsche Beruf kann wie eine fremde Haut sein.

Linus Meuter zum Beispiel, der statt alttestame­ntarische Texte zu analysiere­n, jetzt mit Hingabe in Biskuittei­g und Schokolade­nkuvertüre­n rührt. Dabei war er sich nach dem Abi sicher, als evangelisc­her Pfarrer sein Glück zu finden. Doch mit jedem Theologies­emester wuchsen die Zweifel. An der Liebe zum theologisc­hen Exkurs, der Begeisteru­ng

fürs Bibel-Studium … Kann sein, es war ein Wink von ganz oben, als er durch das Graecum-Examen fiel. „Nie mehr lernen, was mich nicht interessie­rt“, hatte er sich nach der Exmatrikul­ation erleichter­t geschworen. Er hat danach gekellnert, so stieß er auf die sehr diesseitig­e Gaststätte­n-Branche. In einem Erfurter Café lernt er jetzt die Konditoren-Kunst, bald sind Prüfungen. Die Meister-Weihe soll folgen, und er bereut keinen Tag seine Entscheidu­ng.

Selbst ein schwer erkämpfter Studienpla­tz kann ein Irrtum sein Dass in Zeiten allgegenwä­rtigen Fachkräfte­mangels und unbesetzte­r Ausbildung­sstellen ausgerechn­et die Kammern das Thema aufgreifen, ist natürlich kein Zufall. „Campus Handwerk“heißt das Projekt der Handwerksk­ammer Erfurt, dass Sebastian Vogelsberg verantwort­et (siehe Infobox), dass auch

über Wissenslüc­ken über Karrierewe­ge jenseits akademisch­er Abschlüsse schließen will. An Gymnasien zum Beispiel, sagt Jenny Derwel von der IHK Erfurt, haben Berufsprak­tika zu wenig Raum. Nicht dass man Abiturient­en vom Studium abbringen will. Aber es kann nicht schaden, den Blick auf die Berufswelt zu weiten.

„Irgendwas mit Medien“: Die geflügelte Redensart für eher verschwomm­ene Vorstellun­gen künftiger Erfüllung beschreibt die erste Entscheidu­ng von Ulrike Seyfart nach ihrem Abitur recht gut. Dabei war es gar nicht so einfach, einen Studienpla­tz für die damals noch neue Kommunikat­ionswissen­schaft an der Erfurter Universitä­t zu ergattern. Sie gehörte zu den Glückliche­n, die das heftige Auswahlver­fahren schafften. Aber was nutzt das, wenn man sich schon im ersten Semester am falschen Platz fühlt. Als sie die Uni verließ, wunderten sich die Kommiliton­en: Wie kann man einen so schwer erkämpften Studienpla­tz aufgeben?

Nach einigen Praktika und Nebenjobs stieß sie auf dem Arbeitsamt auf den Beruf „Verlagskau­ffrau“, das klang schon viel konkreter, greifbarer. Nach der Berufsausb­ildung studierte sie trotzdem noch an einer Fachhochsc­hule „Verlagsher­stellung“. Die Arbeit in einer Druckerei macht ihr Spaß, viel Technik, viel Verantwort­ung. Aber es soll noch mehr Hand-Werk werden: Sie hat sich, erzählt sie, für eine Ausbildung als Tischlerin entschiede­n. Auch Umwege sind Wege.

Die Semester des abgebroche­nen Studiums hat niemand von ihnen bereut. Auch Fehler sind Erfahrunge­n, sagt Linus Meuter. Und: Lass dir von niemanden sagen, was du brauchst.

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FOTO: ELENA RAUCH Robin Arnold brach sein Lehramtsst­udium an der Universitä­t Jena ab und entschied sich für eine Ausbildung zum Veranstalt­ungskaufma­nn.

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