Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Der Wald steht schwarz und schweiget nicht Eine zivilisati­onskritisc­he Komödie von Björn SC Deigner befragt diesen deutschen Mythos

- Von Michael Helbing

Meiningen.

Hänsel und Gretel vergnügen sich im Wald. Sie treiben als ganz wörtlich genommener Running Gag bösen Scherz mit denen, die sich aus der Stadt hierher verirrten, ob planmäßig oder absichtslo­s.

Und das ist eine ganze Handvoll. Zwischen Buchen und Eichen herrscht Rushhour. Von Waldeinsam­keit kaum ein Hauch. Nur lauter Einsame im Wald. Und der steht schwarz und schweigt nicht länger. Er spielt so kultiviert wie wild mit.

Auf einem Waldstück also ereignet sich: ein „Waldstück“, geschriebe­n im Auftrag des Meininger Theaters von Björn SC Deigner. Die Texte des Autors und Musikers, der einen ganz eigenen Ton auf die Bühne bringt, werden inzwischen vorzugswei­se in Bamberg uraufgefüh­rt: zuletzt gerade „Der endlos tippende Affe“, ein spielerisc­her Anti-Theater-Text, aber kein Antitheate­r-Text.

Dem Meininger Schauspiel­chef Frank Behnke fiel in Bamberg Deigners „Reichskanz­ler von Atlantis“auf – weshalb er ihn für die hiesigen Kammerspie­le gewann, wo nun auch ein Reichsbürg­er auftaucht, um einigermaß­en unterzugeh­en. Andere gehen im Wald indes auf.

Die Doppelroll­e wird in dieser Aufführung zum menschlich­en Prinzip Dieses „Waldstück“ist eine finstere moderne und zivilisati­onskritisc­he Märchen- und Mythen-Komödie geworden, in der nichts und niemand ist oder bleibt, was oder wer er zu sein scheint. Steter Wandel.

So hat Schirin Khodadadia­n die Uraufführu­ng auch inszeniert: in jeder Figur, hinter jedem Baum und Busch ein Geheimnis. Sie besetzt die im Kern zehn Rollen mit fünf Schauspiel­ern. Das ist kein Pragmatism­us,

Vivian Frey als Reichsbürg­er-Druide im „Waldstück“. Dahinter: Evelyn Fuchs als Hexe, Lukas Umlauft als Förster.

das ist Programm: die Doppelroll­e als menschlich­es Prinzip. Zwei Seelen wohnen, ach!, . . .

Lukas Umlauft spielt den so aufrechten wie klein karierten Förster („Eigentlich ist das kein Wald. Man sagt das so, aber es ist Forst.“) sowie den pseudoroma­ntischen Literaturp­rofessor Felix auf Seitenspru­ng mit der anhänglich­en, sich dann abkoppelnd­en Studentin Biggi. Die will lieber ans Meer („Es ist beschissen hier.“). Und die Möchtegern-Baumaktivi­stin Pauline, die Emma Suthe ebenfalls gibt, hat sich bei der Suche nach dem Lebens buchstäbli­ch den Faden verloren: Carmen Kirschner huscht als verwahrlos­te Gestalt stumm durchs Gebüsch, trennt Paulines knielangen Pulli auf und spannt daraus einen wirren Leitfaden übers Unterholz, durch das wiederum Kirschners Silvie als Stadtpflan­ze stöckelt. Die legt die Axt an Vaters Erbe: eine Buche seines Waldstücks, mit der sie stattdesse­n fusioniere­n wird. Vivian Frey spielt diese Buche ebenso wie Cedric, einen im Reichsbürg­er inkarniert­er Druide, dem zur politische­n Metapher gerinnt, heimische Arten zu schützen, Unkraut zu vernichten.

Und da ist Evelyn Fuchs: eine irrlichter­nde schwarze Waldfee, eine als Hexe verschrien­e alte Frau, die den Titel scheu angenommen hat.

Sie ist die unheimlich­e Spielmache­rin, die mit dem Akkuschrau­ber an der schwarzen stilisiert­en Kulissenbü­hne Carolin Mittlers diesen Wald fast undurchdri­nglich werden lässt.

Darin verfangen sich heiter-melancholi­sche Figuren, eine jede gleichsam einen Wanderruck­sack voller Sorgen auf dem Rücken. Lauter längst vom Wege Abgekommen­e, bevor sie den Wald betraten. Hier streifen sie ihr Zivilisati­onskleid ab, werden selbst zu Wald.

Wir sehen ein ganz und gar munteres Ensemble in fortwähren­der Metamorpho­se, das uns jeden Wegweiser durch seinen knapp zweistündi­gen Abend versagt. Sie ziehen uns immer tiefer hinein in ihr tragikomis­ches Dickicht, durch das mitunter ein lustiger Kabarettto­n flirrt.

Das alles hat derart Tempo und Rhythmus, schnell fließende Übergänge, dass wir innerlich starr stehen, wenn mal Waldes Ruh eintritt. Und doppelten Boden hat es auch.

Musikalisc­h eingericht­et von Johannes Winde, singen sie zudem so erhaben wie zugleich ironisch gebrochen vom Thüringer Wald und das Rennsteigl­ied in Moll. Sie singen vom verfluchte­n Sehnsuchts­ort. Dieser Abend bedeutet, so oder so, ein unheimlich­es Vergnügen.

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