Thüringische Landeszeitung (Gotha)
Aufstehen und Schlafengehen mit dem Krieg
Die Autorin Cordula Simon verbindet viel mit der Ukraine. Als Stadtschreiberin in Gotha hilft sie Flüchtlingen
Gotha.
Das dunkle Rubinrot hüpft einen an. Im Gothaer Stadtbild ist Cordula Simon kaum zu übersehen. Nicht nur die Haare der Autorin, auch die Brille und die Lippen, ja sogar die Nägel leuchten in der augenfälligen Farbe, die wie kaum eine andere für Sinnlichkeit und Selbstvertrauen steht. Seit Anfang April ist die fesche Österreicherin in Gotha zu Gast. Sechs Monate wird sie hier verbringen und als Stadtschreiberin über ihre Eindrücke berichten. Bisher hat die 36-Jährige jedoch vor allem den Hauptfriedhof gesehen.
„Ich bin eigentlich nur spazieren gegangen. Das ist so ein Ding beim Schreiben, ab und zu muss ich das Hirn auslüften“, sagt die grazile Grazerin, während sie in einem Café auf dem Neumarkt sitzt und pechschwarzen Kaffee trinkt. Ihre Stimme ist überraschend tief. Der weiche, schwingende Dialekt mit den breiten Lauten drängelt sich durch das Goth’sche Genuschel um sie herum und lässt die Leute für einen Moment aufhorchen.
Den mittlerweile fünften
Roman veröffentlicht
Dass sie beim Spazieren in Gotha ausgerechnet auf dem Friedhof landete, ist kein wirklicher Zufall. „Tote Leute sind sehr angenehme Leute“, sagt Simon einen Satz, der genau so gedruckt werden könnte. Seit 2018 arbeitet sie neben dem Schreiben als „Geringfügige“bei einem Bestatter in Graz, um nicht immer denken zu müssen. Sie packt mit an, hebt Leichen, wäscht sie und schminkt die Toten. Diese Ablenkung fehlt während ihres Aufenthalts in Gotha, der eigentlich
Die österreichische Autorin Cordula Simon ist für sechs Monate Stadtschreiberin der Stadt Gotha. Bisher hat es sie vor allem zu den Friedhöfen der Stadt gezogen.
eine unbeschwerte, inspirierende Zeit versprach.
Doch dann war Krieg in der Ukraine – und für Simon trat plötzlich alles andere in den Hintergrund, selbst die Veröffentlichung ihres fünften Romanes „Die Wölfe von Pripyat“. Fünf Jahre lang hat Simon in der Hafenstadt Odessa gelebt, die seit Anfang dieser Woche unter russischem Raketenbeschuss steht. Die meisten ihrer Freunde haben Schreckliches erlebt, sind bereits geflohen oder noch auf der Flucht. „Ich stehe morgens mit dem Krieg auf und gehe abends mit ihm ins Bett“, sagt sie trocken und zündet sich eine selbstgedrehte Zigarette an.
Sie raucht und spricht über ihre Zeit am Schwarzen Meer erst als Studentin und später als LiteraturStipendiatin. Auf jeden Kippenstummel folgt eine neue Zigarette, die nonchalant zwischen den rubinroten Nägeln und Lippen wandert.
Simon atmet Rauch und redet von Fronten in Wohnzimmern, die sich schon 2014 auftaten, und einer wachsenden Spaltung von Familien, Freunden, Gesellschaften. Mit dem Krieg habe jedoch weder sie noch irgendwer ihrer Bekannten gerechnet.
Sehr lange habe sie gebraucht, das Geschehen zu begreifen. Jetzt wohnt eine ukrainische Freundin mit ihrer Mutter und ihrer Katze mit in der Dreiraumwohnung, die sie als
Stipendiatin nutzt. „Die Katz ist wie ein Kind, sie spielt gern Verstecken, aber sie hat Angst vor meinem schwarzen Morgenmantel“, sagt Simon, die noch ein weiteres Zimmer für Geflüchtete frei hält und alle Erlöse aus Lesungen und Workshops an Hilfsorganisationen in die Ukraine spendet.
Landkreis.
Gotha.