Thüringische Landeszeitung (Gotha)

„Die ersten Schüsse trafen meinen Sohn und meine Frau“

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„Wir waren zehn Jahre verheirate­t“, sagt Oleksandr Osipow. Er steht auf einem Platz an der Deputatska-Straße in Butscha nahe Kiew. Hier sind die Wracks russischer Panzer und Militärfah­rzeuge aufgetürmt, genauso wie zerstörte Autos ukrainisch­er Zivilisten. Osipow steht vor einem weinroten Mitsubishi Colt, seine Augen sind gerötet.

In diesem Auto sind seine Frau Victoria, sein Sohn Wiacheslaw, den alle Slawa nannten, und sein Schwiegerv­ater Anatoly gestorben. Im Wageninner­en liegt noch die blutversch­mierte Handtasche seiner Frau. In der Karosserie des Autos klaffen etliche Einschussl­öcher. Osipow, Mitte 60, stammt aus Donezk, jener Region im Osten der Ukraine, die seit acht Jahren umkämpft ist. „Vor einem Jahr sind wir nach Hostomel gezogen, meine Frau wollte dorthin, weil ihre Eltern dort leben.“In Hostomel im Nordwesten von Kiew tobten seit Beginn des russischen Überfalls heftige Gefechte. „Wir hatten nach einiger Zeit kein Essen und kein Wasser mehr, da haben wir entschiede­n, über Irpin nach Kiew zu fliehen“, erzählt Osipow. Am 2. März fahren sie mit zwei Autos los. Das erste steuert der 32-jährige Sohn, neben ihm sitzt die Mutter, auf dem Rücksitz der beinamputi­erte Schwiegerv­ater. „Mein Sohn kannte sich gut in der Region aus, deswegen ist er vorweggefa­hren.“Um 9.30 Uhr geraten sie in Irpin unter Beschuss. „Die ersten Schüsse trafen meinen Sohn und meine Frau, die nächsten meinen Schwiegerv­ater“, erinnert sich Osipow und wieder füllen sich seine Augen mit Tränen. Er muss alles hilflos mitanschau­en. Die Mörder schießen mit großkalibr­iger Munition, die Einschussl­öcher sind faustgroß. Osipow kann sich mit dem zweiten Auto in Sicherheit bringen.

Der Witwer lebt jetzt im 400 Kilometer entfernten Ternopil. An diesem Tag hat er zum ersten Mal das Auto wiedergese­hen, in dem sie gestorben sind. Er berührt das Wrack, als könnte er seine Lieben spüren. Eine Tür steht offen, er schließt sie vorsichtig. Dann geht Oleksandr Osipow davon.

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