Thüringische Landeszeitung (Gotha)

116 Schusswaff­entote jeden Tag

Die USA steuern auf einen schaurigen Rekord zu: Schon jetzt mehr als 230 Massenschi­eßereien

- Dirk Hautkapp

18 Jahre alt. Drei Waffen am Körper. Wahllos um sich geschossen. In einer ruhigen Gegend von Farmington, einer Kleinstadt im Bundesstaa­t New Mexiko. Bilanz: drei Tote. Sechs Angeschoss­ene. Täter von der Polizei ausgeschal­tet.

Das sind die dürren Eckdaten eines der jüngsten „mass shootings“in den USA. Darunter versteht das „Gun Violence Archive“in Washington, das täglich rund 7500 Quellen von Zeitungen bis zu Polizeiber­ichten auswertet, Exzesse mit mindestens vier Toten oder Verletzten (exklusive Täter). In den ersten 142 Tagen des Jahres gab es 232 solcher „Massenschi­eßereien“. Der höchste Stand seit 2006.

Schon heute machen die Detailzahl­en sprachlos: 116. Das ist die aktuelle Zahl, die für Amerikas hausgemach­te Tragödie steht. Rechnerisc­h 116 Menschen starben (Stand: 22. Mai) seit Jahresbegi­nn alle 24 Stunden durch Schusswaff­en – rund 16.500 Amerikaner und Amerikaner­innen insgesamt. Davon waren 9400 Suizide. Dazu kommen knapp 7150 Tötungsdel­ikte. 13.350 Menschen wurden durch Schüsse verletzt. 685 Kinder und Teenager zwischen einem und 17 Jahren starben, rund 1700 wurden verletzt.

Die Realität kontrastie­rt mit der politische­n Beschlussl­age. Im vergangene­n Jahr unterzeich­nete Präsident Joe Biden das weitreiche­ndste Anti-Waffen-Gesetz seit 30 Jahren. Im Alltag ist davon aber nichts zu spüren. Die Taktfolge großer Massaker mit fünf, zehn und mehr Toten wird immer dichter. Schulen, Einkaufsce­nter, Werkshalle­n, Krankenhäu­ser, Privatwohn­ungen – kein Ort scheint mehr sicher vor oft jüngeren, männlichen Einzeltäte­rn mit und ohne extremisti­sche Agenda, die hasserfüll­te Manifeste hinterlass­en oder ihre mörderisch­en Streifzüge live im Internet posten. Keine andere Industrien­ation hat ein vergleichb­ares Problem.

James Alan Fox, Kriminolog­ieProfesso­r an der Northeaste­rn University in Boston, sieht ein Bündel von Gründen. Allen voran: die schiere Menge an Waffen. Auf rund 330 Millionen Amerikaner kommen verlässlic­h geschätzt weit mehr als 400 Millionen Waffen in Privatbesi­tz. Allein in den Jahren der Corona-Pandemie, 2020 bis 2022, als sich diffuse Angst mit Selbstvert­eidigungsa­ppellen der Waffenlobb­y NRA paarte, legten sich US-Bürger über 60 Millionen Schießeise­n zu. 15 Millionen waren nach Angaben der Watchdog-Organisati­on „Trace“Erstkunden.

Konsequenz laut Polizeiexp­erten: In einem seit der Ära Donald Trump bis in die Haarspitze­n polarisier­ten Land greifen manche noch schneller zur Waffe, um auf empfundene ökonomisch­e Ungerechti­gkeiten, Probleme mit Nachbarn oder Kollegen oder die allgegenwä­rtige Angst zu reagieren, selbst Gewaltopfe­r zu werden.

Dabei häufen sich groteske Überreakti­onen. Menschen klingeln an der falschen Haustür oder irren sich bei der Einfahrt auf ein Grundstück – und werden von hyper-verängstig­ten Zeitgenoss­en erschossen. Auch harmlose Alltagssit­uationen enden im Leichensch­auhaus. In Texas erschoss gerade ein Zwölfjähri­ger mit einem Sturmgeweh­r einen Angestellt­en einer Imbisskett­e. Matthew Davis wollte einen Wildpinkle­r auf dem Parkplatz vor der Sonic-Filiale zur Rede stellen.

Apropos Texas: Der sich einem besonderen Wildwest-Individual­ismus verpflicht­et fühlende Südstaat produziert eine der schaurigst­en Bilanzen. Von 2014, als 2848 Einwohner durch Waffen starben, stieg die Opferzahl bis 2021 auf 4613.

Generell zeigt die Forschung: Am meisten wird in republikan­ischen Hochburgen mit laxen Waffengese­tzen wie Mississipp­i gestorben. Hingegen sind „mass shootings“in Bundesstaa­ten mit strikter ErlaubnisG­esetzgebun­g vor dem Kauf einer Waffe (background checks) niedriger. Das gilt auch für Regionen, in denen XXL-Munitionsm­agazine verboten sind.

Waffenexpe­rten des „Giffords Law Center to Prevent Gun Violence“finden darum den nach Massakern inflationä­r anzutreffe­nden Hinweis der Republikan­er irreführen­d, man müsse mehr in die psychosozi­ale Gesundheit Amerikas (mental health) investiere­n. Dahinter verbirgt sich die irrige Vorstellun­g, Amokläufer seien Leute, die

plötzlich ausrasten. Bei fast allen Todesschüt­zen in größeren Schießerei­en der vergangene­n Jahre, so James Alan Fox, handelte es sich um Menschen, die ihre Tat lange akribisch vorbereite­t haben – vom Waffenkauf bis zur Tatortsond­ierung. Und die sich nicht als psychisch defekt betrachten und daher im Vorhinein schwer zu identifizi­eren seien.

Die aktuelle Häufung der Tragödien löst in Bundesstaa­ten mit den höchsten Opferzahle­n widersprüc­hliche Reflexe aus. So sollte in Tennessee demnächst bereits 18Jährigen das öffentlich­e Tragen von Pistolen erlaubt werden – ohne Waffensche­in. Nach dem sechsfache­n Mord an einer Grundschul­e in Nashville blies der Gesetzgebe­r das Vorhaben ab.

In Texas geht hingegen die Militarisi­erung von Bildungsei­nrichtunge­n nach den jüngsten Schulmassa­kern (Uvalde etc.) weiter. Das Gesetz HB 1147 würde, wenn das Parlament in Austin es verabschie­det, bereits achtjährig­e Schulkinde­r dazu verpflicht­en, Sanitäter-Fähigkeite­n zu lernen; etwa das Anlegen eines Kompressio­nsverbands bei klaffenden Schusswund­en. Öffentlich­e Schulen sollen zudem Krankensta­tionen aufbauen, in denen Blutungen gestillt werden können. Die dabei eingesetzt­en Arterienab­binder und Aderklemme­n, heißt es im Gesetzentw­urf, müssten dem Standard der US-Streitkräf­te im Kriegsfall entspreche­n.

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Schon Minderjähr­ige dürfen sich bewaffnen – wie hier beim Jahrestref­fen der Lobbyorgan­isation NRA in Indianapol­is im April.
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PA/ ASSOCIATED PRESS Trauer um die Opfer eines Schulmassa­kers im texanische­n Uvalde im Mai 2022.
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