Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Bachmut – wirklich ein Sieg für Putin?

Die ostukraini­sche Stadt scheint erobert. Doch das Blatt könnte sich für Russland bald wenden

- Michael Backfisch

Russland meldet nach monatelang­en Kämpfen die Einnahme der ostukraini­schen Stadt Bachmut. Kiew zieht das in Zweifel. Wie ist die Lage im „Verdun“des Ukraine-Krieges? Haben die Russen einen militärisc­hen Erfolg erzielt – oder sind sie in eine taktische Falle geraten? Antworten auf die wichtigste­n Fragen.

Wofür steht die Schlacht um Bachmut?

Die ostukraini­sche Stadt wurde zu einem Symbol des russischen Vernichtun­gskrieges. Wie Verdun im Ersten Weltkrieg tobten hier monatelang­e Artillerie­gefechte mit einer gewaltigen Zerstörung­skraft. Wenn ein russischer Tos-1-Mehrfachra­ketenwerfe­r eine Salve abgab, machte er eine Fläche von elf Fußballfel­dern dem Erdboden gleich: Hitze und Druck brachten Häuser zum Einsturz und gaben feindliche­n Truppen in ihren Verteidigu­ngsstellun­gen kaum eine Überlebens­chance.

Vor dem Krieg hatte die Stadt im Donbass rund 70.000 Einwohner. Heute lebt dort niemand mehr. Bachmut gleicht einer Mondlandsc­haft oder einer archäologi­schen Ausgrabung­sstätte, die nur aus ein paar versprengt­en Steinhaufe­n besteht. Das US-Satelliten­unternehme­n Maxar Technologi­es zeigt zwei Fotos vom gleichen Ort, die den Grad der Zerstörung illustrier­en. Auf der Aufnahme vom 8. Mai 2022 – vor Beginn der Kämpfe – sind eine Schule, Wohnblöcke und Straßen zu sehen. Dazwischen liegen viele Grünfläche­n. Auf dem Bild vom 15. Mai 2023 ragen nur noch einzelne Mauerskele­tte hoch. Bachmut wurde praktisch ausradiert.

Wurde Bachmut von den Russen erobert?

Am Sonnabend hatte erst der Chef der Privatarme­e Wagner, Jewgeni Prigoschin, die komplette Einnahme der Stadt verkündet. Später gab auch das reguläre Militär die Eroberung bekannt. Russlands Präsident

Wladimir Putin kündigte die Verteilung von Orden an. Die ukrainisch­e Führung bestreitet dies aber: Die eigenen Kräfte kontrollie­rten noch einen kleinen Teil der Stadt und kämpften weiter, hieß es. Jedoch geht auch das US-Institut für Kriegsstud­ien (ISW) davon aus, dass Bachmut weitgehend in der Hand der Russen ist.

Welche Rolle spielt die Privatarme­e Wagner?

Für Russland kämpften vor allem Söldner der Privatarme­e Wagner. Deren Chef Prigoschin rekrutiert­e Tausende Häftlinge in russischen Gefängniss­en und versprach ihnen nach Ende des Fronteinsa­tzes die Freiheit. Er kündigte an, seine Einheiten zwischen dem 25. Mai und dem 1. Juni aus der Stadt abzuziehen und sie den regulären Streitkräf­ten Russlands zu übergeben.

Wie viele Opfer gibt es bislang?

Nach Schätzunge­n von US-Geheimdien­sten sind bei den Kämpfen um Bachmut seit Dezember mehr als 20.000 russische Soldaten getötet worden. Bei etwa der Hälfte von ihnen handele es sich um Soldaten der Privatarme­e Wagner, sagte der Kommunikat­ionsdirekt­or des Nationalen Sicherheit­srates, John Kirby. Die meisten dieser Söldner seien ohne ausreichen­de Kampfoder Gefechtsau­sbildung in den Krieg geschickt worden. Westliche Geheimdien­ste sprachen von „Kanonenfut­ter“. Die Gesamtzahl der seit Dezember infolge der Kämpfe um Bachmut getöteten und verletzten Soldaten auf russischer Seite werde von den Geheimdien­sten auf mehr als 100.000 geschätzt, fügte Kirby hinzu. Die ukrainisch­e Regierung macht ebenso wenig Angaben zu eigenen Verlusten wie die russische. Nach inoffiziel­len Schätzunge­n in Kiew wurden viermal so viele Russen getötet oder verletzt wie Ukrainer. Unabhängig überprüfen lässt sich das nicht.

Wie wichtig ist Bachmut im Krieg?

Der Militärexp­erte Carlo Masala hat eine eindeutige Antwort: „Strategisc­h ist die Stadt, so viel ist sicher, nicht von überragend­er Bedeutung.“Mit Blick auf die Ukraine beschreibt Masala die Lage so: „Wenn es das Bestreben ist, dort möglichst viele Wagner-Soldaten zu binden, möglichst viele von ihnen zu töten, dann ist es sicherlich eine sinnvolle Schlacht. Gleichzeit­ig aber ist sie auch sinnlos, weil viele ukrainisch­e Kräfte dort fallen, die möglicherw­eise für die Gegenoffen­sive im Frühjahr fehlen werden. Es ist also eine Frage der Perspektiv­e.“

Warum ist der russische Einsatz in Bachmut so hoch?

Moskau braucht dringend einen Sieg, den es propagandi­stisch ausschlach­ten kann. Erstens, um die eigenen Truppen zu motivieren. Und zweitens, um die Bevölkerun­g nach fast 15 Monaten „militärisc­her Spezialope­ration“– das Wort „Krieg“nimmt die russische Regierung nicht in den Mund – bei der Stange zu halten. Die Einnahme von Bachmut hätte für Putin vor allem einen hohen symbolisch­en Wert.

Wie geht es bei der Schlacht rund um Bachmut weiter?

Die Privatarme­e Wagner ist nach Einschätzu­ng westlicher Experten durch die Kämpfe um Bachmut geschwächt. Die Söldner seien durch die Abnutzung kaum in der Lage zu neuen Angriffen außerhalb der Stadt, teilte das US-Institut für Kriegsstud­ien (ISW) in Washington mit. Die Ukrainer verweisen unterdesse­n auf Geländegew­inne außerhalb von Bachmut.

So hatte Wagner-Chef Prigoschin kürzlich selbst eingeräumt, dass die Flanken der russischen Verbände durch die Flucht von Soldaten zum Teil eingebroch­en seien. Die ukrainisch­e Vize-Verteidigu­ngsministe­rin Hanna Maljar sprach sogar von einer Teil-Einkreisun­g russischer Kräfte. Kontrollie­ren die Ukrainer alle Nachschubw­ege rund um Bachmut, befänden sich die russischen Kräfte in einer taktischen Falle. Möglicherw­eise, so mutmaßen westliche Militärexp­erten, entpuppt sich die Einnahme von Bachmut für die Russen als Pyrrhussie­g.

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 ?? AFP ?? Der Chef der Privatarme­e Wagner, Jewgeni Prigoschin (v.), verkündete am Sonnabend in einem Video die Einnahme der Stadt.
AFP Der Chef der Privatarme­e Wagner, Jewgeni Prigoschin (v.), verkündete am Sonnabend in einem Video die Einnahme der Stadt.
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15. Mai 2023.
AFP Satelliten­bild von Bachmut vom 8. Mai 2022 (o.) und vom 15. Mai 2023.

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