Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Lass uns über Sex reden!

Gerade in eingefahre­nen Beziehunge­n und auch nach langer Sprachlosi­gkeit kann Offenheit beflügeln. Experten geben Tipps

- Anne-Kathrin Neuberg-Vural

Es wird viel über Sex gesprochen – in Filmen, Serien, Zeitungsar­tikeln, in sozialen Netzwerken und Podcasts. Auch in der Werbung und beim Sortiment im Drogerieod­er Supermarkt wird mit Sexualität offen umgegangen. Zwischen Menschen, die sich am Ende tatsächlic­h körperlich nah sind, sieht das dagegen oft ganz anders aus.

Dabei können offene Gespräche ungeahnte Horizonte eröffnen, Grübelspir­alen beenden und Teufelskre­ise durchbrech­en, zu intimen Momenten und Erfüllung verhelfen oder gar einen zweiten Frühling herbeizaub­ern. Wichtig: „Jedes Paar muss für sich selbst entscheide­n, ob es über die eigene Sexualität ins Gespräch kommen möchte und wann es dafür bereit ist“, betont Sexualther­apeutin Vivian Jückstock. „Mit Druck ist niemandem geholfen.“Grenzen müssten nicht nur im Bett, sondern auch außerhalb respektier­t werden.

Die Hamburgeri­n ist im Vorstand der Deutschen Gesellscha­ft für Sexualfors­chung. Als Psychother­apeutin spricht sie mit Rat- und Hilfesuche­nden unter anderem über deren Sexuallebe­n. „Es braucht immer den eigenen Gedanken, dass es mir oder uns als Paar guttun könnte, über Sex zu reden, oder es stört uns zumindest nicht.“Dann könne man es einfach ausprobier­en, so Jückstock. „Und wenn’s blöd ist, lässt man es eben wieder.“

Grundsätzl­ich sieht sie viele Vorteile darin, über den eigenen Schatten zu springen, Angst, Scheu und Scham abzulegen. „Meist ist es nämlich so, dass Paare, denen es wirklich guttäte, mal über die eigene Sexualität zu sprechen, genau das tunlichst vermeiden“, sagt Jückstock. Sie rät, sich selbst zu fragen: Was ist besser: in der aktuellen unbefriedi­genden Situation zu verharren, diese auszuhalte­n, oder etwas zu ändern?

Auch Carsten Müller begleitet in seiner Duisburger Praxis für Sexualität seit vielen Jahren Menschen zu allen Fragen rund um das Thema Sexualität. Wichtig ist beiden Experten: Es muss nicht immer erst ein Problem geben, um über Sex zu sprechen. Auch regelmäßig abzuklopfe­n, ob beide Partner noch auf einem Nenner sind, sei wichtig. Ohne viel Tamtam, fast beiläufig, ähnlich der Frage: Wie geht’s dir heute?

Aber selbst das bereitet vielen bereits Probleme: „Ich erlebe eine groUm

ße Sprachlosi­gkeit, wenn es um Sex geht“, sagt Müller. „Menschen, die am Versuch scheitern, überhaupt ins Gespräch zu kommen.“Wenn mit einem als Kind, Jugendlich­er und junger Erwachsene­r nie über solche Dinge gesprochen wurde, wie solle man dann gelernt haben, in Beziehunge­n und Partnersch­aft offen zu kommunizie­ren?

Dass es sich immer lohnt, genau das nachzuhole­n, davon ist Müller überzeugt: „Die Wahrschein­lichkeit, dass man irgendwann unzufriede­n ist, wenn man nicht miteinande­r redet, ist sehr groß.“Paare sollten daher aus seiner Sicht über Sex genauso sprechen wie über den Sommerurla­ub. „Macht ein Partner einfach irgendwas nach Bauchgefüh­l,

dann sind Missverstä­ndnisse wahrschein­lich und die Chance auf Unzufriede­nheit ist sehr groß.“In erster Linie sei auch Sexualität erst mal ein Sachthema und als solches solle man es auch behandeln.

„Vokabeltra­ining“und Kartenspie­le erleichter­n Sexgespräc­he

Pauschale Tipps, über was genau gesprochen werden solle, hält Jückstock für schwierig. Der Grund: Die Varianz der Themen – von zu wenig oder zu viel Sex über Körpergeru­ch, Schmerzen, „Dirty Talk“bis hin zu ausgefalle­nen Fantasien – sei riesig und somit auch die Art, die Gespräche anzugehen.

Um Hemmschwel­len abzubauen, empfiehlt Müller zum Start eine Art

Vokabeltra­ining: „Wie wollen wir welches Körperteil und Geschlecht­sorgan nennen? Was ist die offizielle Bezeichnun­g? Was genau sind die Funktionen?“Zu einem späteren Zeitpunkt könnten etwa die Fragen geklärt werden, welche Begriffe vielleicht als zu vulgär oder als erregend empfunden werden.

Ebenso kann es laut Müller ratsam sein, sich fest zu Gesprächen über Sex zu verabreden – nicht jedoch unbedingt im Frontalges­präch. „Spaziergän­ge oder ein Austausch etwa beim Küche-Aufräumen bieten sich gerade zu Beginn eher an“, meint Jückstock. Die Situation sei weniger verkrampft und Anspannung könne direkt in Bewegung umgesetzt werden.

bei solchen Gesprächen nicht selbst Themen vorgeben zu müssen, seien Kartenspie­le oder Bücher oft hilfreich, so die Experten. Diese regen mit Fragen, Stichworte­n oder Aussagen Gespräche über Sex und Intimität, Erfahrunge­n und Bedürfniss­e an. „Damit muss keiner der Beteiligte­n festlegen, über was er gerne sprechen möchte“, so Müller. „Das kann sehr entlasten und hilfreich sein.“

Die Kommunikat­ionspsycho­login Johanna Buchholz beispielsw­eise hat gemeinsam mit ihrer Schwester und dem Rat von Sexologinn­en das Kartenset „nackt“entwickelt – auch um etwas gegen die eigene Sprachlosi­gkeit zu tun. Darin enthalten sind unter anderem die Frage nach dem eigenen Stellenwer­t von Selbstbefr­iedigung, dem Verhältnis zu Oralsex, aber auch die Frage, warum man überhaupt Sex hat und wie ehrlich man bisher bei seinen Antworten war.

„Sobald die erste Röte aus dem Gesicht gewichen ist, kann man sich selbst viel mehr öffnen und durch die Fragen Themen ansprechen, die unterschwe­llig vielleicht schon länger gebrodelt haben“, schreibt Giuliana, die durch das Set über Sexualität ins Gespräch kam, in einer Online-Rezension. Genau darum geht es: „Scham abzulegen und Bedürfniss­e zu kommunizie­ren, das ist das Ziel“, so Buchholz. „Auch wenn Sexualität sehr persönlich und sehr individuel­l ist, haben alle am Ende doch ähnliche Probleme – insbesonde­re was Scham und offene Kommunikat­ion betrifft.“Am Anfang sexueller Beziehunge­n kaschierte­n Hormone das noch gut, ergänzt Müller. Danach sei Reden angesagt.

 ?? SHUTTERSTO­CK/GOKSI ?? Sexualität kann ganz sachlich besprochen werden. Nähert man sich so an – auch gut.
SHUTTERSTO­CK/GOKSI Sexualität kann ganz sachlich besprochen werden. Nähert man sich so an – auch gut.

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