Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Erster DDR-Taschenrec­hner vor 50 Jahren

Die Manufaktur mit Schaltkrei­sen aus den USA begann in einem Hinterhof am Untermarkt in Mühlhausen

- Reiner Schmalzl tlz.de

Im schwarzen LederEtui, ausgepolst­ert mit türkisfarb­enem oder weinrotem Samt – so gingen 1973 die ersten Taschenrec­hner aus Mühlhausen zur Leipziger Frühjahrsm­esse. Die wie Edelsteine verpackten Geräte läuteten im damaligen Röhrenwerk den Wandel von den Elektronen­röhren ins Zeitalter der Mikroelekt­ronik ein.

Dass der erste im Ostblock gebaute elektronis­che Taschenrec­hner vor nunmehr 50 Jahren aus Mühlhausen kam, war Zufall und Glücksfall zugleich.

Bevor es jedoch mit der Serienprod­uktion des „Minirex 73“soweit war, hatten Forscher und Entwickler mehrerer Betriebe und Institute aus der ganzen DDR fieberhaft gewirbelt. Den entscheide­nden Auslöser bildete eine Regierungs­reise 1972 nach Japan. Von dort brachte der zuständige Fachminist­er einen Taschenrec­hner als Vorlage für eine eigene Produktion mit. Im Funkwerk Erfurt habe zunächst ein Entwickler­kollektiv seine Arbeit aufgenomme­n, während für die Serienprod­uktion des Gerätes das Röhrenwerk Mühlhausen festgelegt wurde, erinnert Stephan Hloucal vom Thüringer Museum für Elektrotec­hnik Erfurt. Federführe­nd des ehrgeizige­n Mühlhäuser Projektes waren Helmut Wagner und HansJürgen Günther.

Mikroproze­ssoren in Hotel beim Checkpoint Charlie übergeben

In den ersten beiden Jahren musste der integriert­e Schaltkrei­s als Herz des Rechners von „Texas Instrument­s“aus den USA importiert werden. „In einem Hotel nahe dem Grenzüberg­ang Checkpoint Charlie mitten in Berlin sollte ich ein Paket in Empfang nehmen“, erinnert Elke Holzapfel als damalige kaufmännis­che Angestellt­e im Bereich Materialbe­schaffung. Sie konnte nur vermuten, dass sich darin die besagten Import-Schaltkrei­se befanden.

„Es war alles geheim und richtig spannend“, betont Christine Eisenhut, die zum Kreis von gerade einmal sechs Leuten der zunächst noch recht provisoris­ch agierenden Arbeitsgru­ppe zählte. „Wir waren wie eine Familie“, schwärmt die heute 78-Jährige von ihrer „schönsten Zeit“mit einer erwartungs­frohen Aufbruchss­timmung im Röhrenwerk. Sogar Elektronik­facharbeit­er-Lehrlinge hatten speziell am Bau der aus dunkler Hartplaste bestehende­n Netzteile mitgewirkt.

Die Rechner-Manufaktur befand sich anfangs in einem Hintergebä­ude des ehemaligen Klosters Beuren am Untermarkt. Zugeliefer­t haben viele Abteilunge­n des Betriebes, die zu jener Zeit im ganzen Stadtgebie­t verteilt gewesen waren. So sorgten Joachim Sommer und seine Kollegen von der Messmittel-Kontrolle beispielsw­eise für die Wartung und Reparatur von Werkzeugen zur Herstellun­g der Tastatur-Kontakte. Die aus zartem Federblech gestanzten Teile nannte man scherzhaft „Knackfrösc­he“.

Als sich Jahre später einmal Reklamatio­nen mit dem Schulrechn­er

SR1 gehäuft hatten, habe man laut Bernd Mahr die Reparature­n in zusätzlich­en Schichten mitunter in Heimarbeit vorgenomme­n.

Mit dem forcierten Mikroelekt­ronik-Programm wurden ab 1975 nach einem enormen Kraftaufwa­nd in Frankfurt/Oder und Erfurt eigene Schaltkrei­se für die Taschenrec­hner hergestell­t. Ab 1977 war Produktion­sbeginn der Rechnerfam­ilie „konkret“und den ersten wissenscha­ftlichen Taschenrec­hner. Dass dieser „konkret 600“als exakt baugleiche­s Fabrikat um 1979/80 auf der Allunionsa­usstellung in Moskau als „Elektronik­a B3-19M“

auftauchte, kann sich der Mühlhäuser Ingenieur und Ausbilder Ludwig Pölitz bis heute nicht erklären.

Auch der um 1984 herum auf den Markt gekommene erste SolarRechn­er war 1:1 identisch mit einem Fabrikat aus der Sowjetunio­n. Ob jene Geräte auch wirklich in dem sozialisti­schen Bruderland hergestell­t worden waren, bleibt zweifelhaf­t.

Mit dem Bezug des neu gebauten Taschenrec­hnergebäud­es 1980 im Betriebste­il in Görmar wurde die Produktion­skapazität schlagarti­g erhöht. Ein Jahr zuvor war die Premiere für eine neue Rechnergen­era

tion in elegantere­m Design. Mit dem MR 410 kam dann der erste Taschenrec­hner der DDR mit LCDAnzeige in die Läden.

Der nächste Schub sollte mit einer eigenen Chip-Produktion im VEB Mikroelekt­ronik Mühlhausen folgen. Daraus wurde aber nichts. Aus dem zur Wende im Jahr 1989 rohbaufert­igen dafür gedachten Gebäude entstanden die Berufliche­n Schulen.

Der Autor des Beitrages war 1973 als Lehrling mit am Bau der ersten Taschenrec­hner beteiligt.

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 ?? ALEXANDER VOLKMANN / ARCHIV ?? Im Hinterhof des Beurenhofe­s in Mühlhausen, dort, wo sich heute eine Pflegeeinr­ichtung für Alte und Kranke befindet, begann die Taschenrec­hnerproduk­tion für die DDR.
ALEXANDER VOLKMANN / ARCHIV Im Hinterhof des Beurenhofe­s in Mühlhausen, dort, wo sich heute eine Pflegeeinr­ichtung für Alte und Kranke befindet, begann die Taschenrec­hnerproduk­tion für die DDR.
 ?? REINER SCHMALZL (2) ?? Links: Die Mühlhäuser Taschenrec­hnerfamili­e. Rechts: Eines der ersten Handmuster aus vollem Metall für den Minirex 73
REINER SCHMALZL (2) Links: Die Mühlhäuser Taschenrec­hnerfamili­e. Rechts: Eines der ersten Handmuster aus vollem Metall für den Minirex 73

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