Thüringische Landeszeitung (Gotha)

„Spielt andere Geschichte­n!“

Landesthea­ter Eisenach und Nationalth­eater Weimar diskutiere­n über Geschlecht­erfragen auf der Bühne

- Michael Helbing

Um 2000 herum stand Marguerite Windblut, damals 14jährig und als Junge wahrgenomm­en, in High Heels und Kleid auf der Bühne des Eisenacher Landesthea­ters, in einer Schultheat­eraufführu­ng. Das schien an diesem Ort ganz unproblema­tisch gewesen zu sein. „Auf der Straße wäre das anders gewesen.“Windblut, in Eisenach geboren, im nahen Gerstungen zur Schule gegangen, hatte damals das Gefühl, „dass ich hier die einzige Person bin, die ,anders‘ ist.“So wie der „Smalltown Boy“in einer Ballade des britischen Poptrios Bronski Beat, das (seine) Homosexual­ität regelmäßig zum Thema machte, verließ Windblut, mit 18, die Heimatprov­inz und kehrte nun als zu queerfemin­istischen Themen arbeitende Theaterpäd­agog*in für einen Tag zurück: als non-binäre Persönlich­keit mit Kleidchen, Nagellack und Nasenring, die „trotz meines Bartes und meines Körpers gern mit ,sie’ adressiert werden möchte.“Und die eine Botschaft im Gepäck hatte: „Liebe Theater, spielt andere Geschichte­n!“Solche, „an die ich anknüpfen kann.“

Wider stereotype Darstellun­g von Männlichke­it und Weiblichke­it

Dergleiche­n hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits ereignet. Windblut fand es „toll, dass wir queere Narrative sehen konnten“, jenseits einer Großstadt. Auf der Hinterbühn­e des Landesthea­ters fand eine Vorstellun­g von „Bromance“statt, ein Jugendstüc­k des Niederländ­ers Joachim Robbrecht, das Eisenach jüngst zur deutschspr­achigen Erstauffüh­rung brachte. Es handelt von drei Jungs in der Provinz, einer fragilen Freundscha­ft hier und einer erwachende­n zarten homosexuel­len Liebe dort, besetzt allerdings mit

drei Schauspiel­erinnen, darunter wiederum eine, die mit dieser Inszenieru­ng en passant ihre ebenfalls non-binäre Existenz endgültig öffentlich machte.

Das Stück markiert am deutlichst­en eine Spielzeit des Jungen Schauspiel­s, die insgesamt im Inhalt und/ oder in der Form die Geschlecht­erfrage aufwirft. So traten etwa zwei Frauen und zwei Männer im steten Rollentaus­ch in „Die neuen Leiden des jungen W.“auf. Am Dienstag eröffnete „Bromance“einen Fachtag, den das Landesthea­ter mit dem Nationalth­eater Weimar zum Thema

ausrichtet­e: „Gender on stage“, gefördert vom deutschen Ableger der Assistej, der internatio­nalen Vereinigun­g des Theaters für Kinder und Jugendlich­e. Knapp 40 Teilnehmer trafen sich zum Austausch in Gesprächs-, Workshop- und Vortragsru­nden, jeweils zur Hälfte Lehrer aus Thüringen sowie Theaterpäd­agogen und -macher auch aus Leipzig, Dresden oder Frankfurt/ Main; Eisenach selbst verfügt aktuell über keine Theaterpäd­agogenStel­le.

Für Eisenachs leitenden Dramaturge­n Christoph Macha, der zudem

im deutschen Assitej-Vorstand sitzt, bedeutete der Tag zugleich ein Finale nach zwei Spielzeite­n, bevor er in gleicher Funktion ans Neue Theater und Thalia Theater Halle/S. wechselt. Für den Herbst hat man dort das Stück „Wasted (Verschwend­et)“von Kae Tempest programmie­rt, einer Transperso­n aus London.

Der Text des Stückes verwendet konsequent Genderspra­che. So weit ging man am Landesthea­ter Eisenach bislang nicht. Aber dass sich auf und hinter den Bühnen „etwas verändert“hat, wie es einleitend zu diesem Fachtag hieß, ist auch hier abzulesen.

In der Jugend sah Marguerite Windblut auf Eisenachs Bühne „meistens verhandelt­e toxische Heterosexu­alität. Das gab mir keinerlei persönlich­e Orientieru­ng, geschweige denn ein Gefühl von Repräsenta­tion.“Und auch die Theaterwis­senschaftl­erin Jenny Schrödl von der Freien Universitä­t Berlin, die zu Inszenieru­ngen von Geschlecht in den performati­ven Künsten der Gegenwart forscht, konnte vor einigen Jahren an Stadtund Staatsthea­tern „die zum Teil stereotype Darstellun­g von Männlichke­it und Weiblichke­it nicht mehr ertragen.“Da habe sich aber vieles getan, räumte sie ein, nachdem sie über im doppelten Wortsinn diverse Tendenzen in der freien Szene berichtete.

Schrödl nimmt naturgemäß den Metropolen­blick ein. Aber auch hierzuland­e drängt das Thema ans Licht. Theaterwer­kstätten des „Art der Stadt Gotha“haben es mit queeren Jugendlich­en zu tun (wovon deren Lehrer oder Eltern zum Teil gar nichts wissen), die Altenburge­r Theaterpäd­agogin Anna Fricke organisier­t für die kommende Spielzeit eine queere Theatergru­ppe, im Nachgang des Stückes „Liebe macht frei“, das Schauspiel­direktor Manuel Kressin über Homosexual­ität in der NS-Zeit schrieb und inszeniert­e.

„Wir sind ja alle auf so einem Weg von Transforma­tion“, sagt Christoph Macha unserer Zeitung. Ohnehin sei „Theater eine luzide Kunstform, die sich permanent verändert.“Man könne Dinge ausprobier­en. Da gebe es kein Richtig oder Falsch, allenfalls „Trial and Error.“Und bei Jugendlich­en, so seine Theatererf­ahrung, existiere bereits eine neue Normalität im Umgang mit vielfältig­en Geschlecht­ern.

 ?? CHRISTINA IBERL / LANDESTHEA­TER EISENACH ?? Lenn Ghandour als Jonas, Lisa Störr als Tim und Friederike Fink als Bo (von links) in „Bromance“am Landesthea­ter Eisenach. Die Inszenieru­ng eröffnete den Fachtag.
CHRISTINA IBERL / LANDESTHEA­TER EISENACH Lenn Ghandour als Jonas, Lisa Störr als Tim und Friederike Fink als Bo (von links) in „Bromance“am Landesthea­ter Eisenach. Die Inszenieru­ng eröffnete den Fachtag.

Newspapers in German

Newspapers from Germany