Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Andere Regeln als vor der Wiesn

- Carola Gruber ist Gothas Stadtschre­iberin und Kurd-Laßwitz-Stipendiat­in im Jahr 2024.

Es gibt Dinge, die verpasse ich immer wieder. Zum Beispiel die Vorführung­en des Dokumentar­films über die DDR-Punkband Schleimkei­m: Ich komme zu spät zur Kinokasse (ich berichtete in dieser Kolumne) oder erfahre erst im Nachhinein, dass der Film anders als angekündig­t bei Kälte nicht draußen, sondern drinnen gezeigt wurde (neulich in der Bretterbud­e), oder die Vorstellun­g ist schlicht ausverkauf­t (wie kürzlich im Kinoklub in Erfurt). Keine Sorge, ich habe noch nicht aufgegeben, den Film während meiner Zeit in Gotha noch zu sehen. Dann wiederum gibt es Dinge, die stehen seit Monaten in meinem Kalender, damit ich sie eben nicht verpasse.

Das Gothardusf­est zum Beispiel. Ein dichtes Veranstalt­ungsprogra­mm in einer mindestens ebenso dicht mit Menschen gefüllten Innenstadt. Ein Highlight im alljährlic­hen Veranstalt­ungskalend­er. Seit einiger Zeit lassen sich Vorbereitu­ngen auf das Fest beobachten: Wenige Schritte von der Stipendium­swohnung

am Brühl entfernt wirbt seit ein paar Wochen ein stoffbespa­nntes Gerüst für das Fest. In den vergangene­n Tagen wurden Buden und Fahrgeschä­fte aufgebaut. Von meinem Arbeitszim­mer aus sehe ich den Container der Polizei.

Bevor Menschenma­ssen die Innenstadt bevölkern

Ich entdeckte in einem Backshop ein Schild: Wegen des Gothardusf­ests bis Mitternach­t geöffnet. Als ich diese Ankündigun­g am späten Abend lese, ist die Fußgängerz­one ausgestorb­en, und es fällt mir schwer, mir die Menschenma­ssen vorzustell­en, die hier demnächst die Straßen bevölkern werden. Diese Vorbereitu­ngen verfolge ich mit Interesse. Wer mich kennt, wird sagen: Das ist ein bisschen seltsam. Als Münchnerin habe ich ein zwiespälti­ges Verhältnis zu größeren Festen. Jedes Jahr bricht das Oktoberfes­t über meine Heimatstad­t herein und verwandelt diese so sehr, dass ich mir immer wieder vornehme, zur Wiesn zu verreisen. Das ist eine Sache, die ich immer wieder verpasse. Anscheinen­d ist es so: Für Dinge, die ich als Stadtschre­iberin erlebe, gelten andere Regeln. In Gotha plane ich nicht, vor dem großen Fest zu fliehen. Im Gegenteil, ich habe mir den Termin frei gehalten.

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Carola Gruber schaut auf das Gothardusf­est in Gotha zurück

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