Thüringische Landeszeitung (Gotha)
Andere Regeln als vor der Wiesn
Es gibt Dinge, die verpasse ich immer wieder. Zum Beispiel die Vorführungen des Dokumentarfilms über die DDR-Punkband Schleimkeim: Ich komme zu spät zur Kinokasse (ich berichtete in dieser Kolumne) oder erfahre erst im Nachhinein, dass der Film anders als angekündigt bei Kälte nicht draußen, sondern drinnen gezeigt wurde (neulich in der Bretterbude), oder die Vorstellung ist schlicht ausverkauft (wie kürzlich im Kinoklub in Erfurt). Keine Sorge, ich habe noch nicht aufgegeben, den Film während meiner Zeit in Gotha noch zu sehen. Dann wiederum gibt es Dinge, die stehen seit Monaten in meinem Kalender, damit ich sie eben nicht verpasse.
Das Gothardusfest zum Beispiel. Ein dichtes Veranstaltungsprogramm in einer mindestens ebenso dicht mit Menschen gefüllten Innenstadt. Ein Highlight im alljährlichen Veranstaltungskalender. Seit einiger Zeit lassen sich Vorbereitungen auf das Fest beobachten: Wenige Schritte von der Stipendiumswohnung
am Brühl entfernt wirbt seit ein paar Wochen ein stoffbespanntes Gerüst für das Fest. In den vergangenen Tagen wurden Buden und Fahrgeschäfte aufgebaut. Von meinem Arbeitszimmer aus sehe ich den Container der Polizei.
Bevor Menschenmassen die Innenstadt bevölkern
Ich entdeckte in einem Backshop ein Schild: Wegen des Gothardusfests bis Mitternacht geöffnet. Als ich diese Ankündigung am späten Abend lese, ist die Fußgängerzone ausgestorben, und es fällt mir schwer, mir die Menschenmassen vorzustellen, die hier demnächst die Straßen bevölkern werden. Diese Vorbereitungen verfolge ich mit Interesse. Wer mich kennt, wird sagen: Das ist ein bisschen seltsam. Als Münchnerin habe ich ein zwiespältiges Verhältnis zu größeren Festen. Jedes Jahr bricht das Oktoberfest über meine Heimatstadt herein und verwandelt diese so sehr, dass ich mir immer wieder vornehme, zur Wiesn zu verreisen. Das ist eine Sache, die ich immer wieder verpasse. Anscheinend ist es so: Für Dinge, die ich als Stadtschreiberin erlebe, gelten andere Regeln. In Gotha plane ich nicht, vor dem großen Fest zu fliehen. Im Gegenteil, ich habe mir den Termin frei gehalten.