Thüringische Landeszeitung (Jena)
Gesamtdeutsch in Melbourne
Jena und die Olympischen Spiele, Teil 5
JENA. Ende 1955 konnten eine ganze Reihe von Jenaer Sportler davon ausgehen, wenn bei den olympischen Spielen 1956 in Melbourne Teilnehmer aus der DDR an den Start gehen würden, dann gehörten sie zum Kaderkreis. Da waren die Hockeyspieler, die 1955 bei den Männern (SC Motor) und bei den Frauen (BSG Motor Carl Zeiss) DDR-Meister wurden. Die Turner Gerhard Braune, Lothar Heil und Fitz Böhme (alle SC Motor) zählten ebenfalls zur DDR Spitzenklasse. Die Leichtathletinnen des SC Motor mit der Sprintstaffel, die seit 1948 in der Ostzone bzw. der DDR in verschiedenen Besetzungen fast immer gewannen und mehrere DDR- und deutsche Rekorde liefen, hatten sogar Medaillenchancen. Dazu gehörte Gisela Köhler die 1954 im Hürdenlauf sogar den Anschluss an die Weltspitze und bei den DDRMeisterschaften 1955 vier Einzelund zwei Staffeltitel holte. Annemarie Clausner war neben Köhler auch als Weitspringerin und im Fünfkampf sehr erfolgreich. Die Rennkanutinnen der HSG (heute USV) mit Ingelore Sint, Helga Frohn, Greta Franz, und Waldtraut Schau zählten damals zur DDR-Spitze. Die Ringer des SC Motor Jena machten sich ebenfalls Hoffnungen auf einen Startplatz.
Von den favorisierten Jenaer Leichtathletinnen war in Australien dann keine am Start, sieht man von Gisela Köhler mal ab, die allerdings ab 1956 für Dynamo Berlin startete.
Was war passiert? Wie schon im letzten Beitrag angedeutet, verstärkte die DDR-Sportführung nach dem Olympiateilnahmerückzug 1952 ihre Anstrengungen zur Entwicklung des Leistungssports. Die Bildung von Sportclubs (SC) war dabei der organisatorische Rahmen. Nachdem Anfang der 1950er Jahre die alte Länderstruktur durch Bezirke als Verwaltungseinheiten ersetzt worden war, entstanden in jedem Bezirk, ein manchmal zwei Sportclubs. Im Rahmen der politischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West auch als „Kalter Krieg“bekannt, erkannte die DDR-Führung unter Walter Ulbricht, dass sportliche Erfolge dazu beitragen konnten, das internationale Ansehen der DDR, die bis Mitte der 1950er Jahre international isoliert war, zu erhöhen. Nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 und dem Tod des Diktators Josef Stalin in der Sowjetunion, womit die starre Anlehnung an das sowjetische Gesellschaftmodell in der DDR etwas gelockert wurde, sah Ulbricht die Möglichkeit, mit guten sportlichen Ergebnissen bei internationalen Wettkämpfen auch bei der eigenen Bevölkerung eine Identifikation mit der DDR zu fördern.
Die in diesen Jahren häufige Vergabe von Leichtathletik-Länderkämpfen und Meisterschaften nach Jena, zum Beispiel Anfang Oktober 1953 gegen Polen, sowie in der Folge gegen sowjetische, bulgarische, belgische und norwegische Athleten, kann man als Indiz für die anerkannte Stellung der Sportstadt Jena ansehen.
Gisela Köhler (verheiratete Birkemeyer), die ab 1953 erstmals für Jena startete, hatte an der damaligen Erfolgsbilanz einen hohen Anteil. 1931 in Fasendorf/Sachsen geboren, kam sie nach dem Zweiten Weltkrieg über Schmölln und Erfurt nach Jena. Von 1953 bis 1961 war sie ununterbrochen DDR-Meisterin über 80-Meter-Hürden, ab 1956 zusätzlich noch über 100 und 200 Meter. Sie knüpfte an die „Hürdenlegende“Siegfriede Weber-Dempe aus Weimar an, die schon Mitte der 1930er Jahre für die Jenaer Uni erfolgreich war und ab 1947 für Jena startete. Gemeinsam mit Annemarie Clausner, Margot Kirchner, Linde Anders, Gerda Schott, Ursula Rosemann und andere bildete sie eine leistungsstarke Trainingsgruppe, die Heinz Birkemeyer trainierte.
Warum Heinz Birkemeyer, der schon seit 1954 im Vorstand des DDR-Leichtathletikverbandes tätig war, Ende 1955 Jena verließ, konnte noch nicht eindeutig ermittelt werden. Es hing aber sicher damit zusammen, dass die besten Leichtathleten in Vorbereitung auf die Olympischen Spiele 1956 möglichst zusammen trainieren sollten. Er und seine spätere Frau Gisela Köhler wechselten zu Dynamo Berlin. Die Dynamo-Staffel über 4x100-Meter holte im September 1956 bei einem Sportfest in Dresden mit Erika Fisch, Christa Stubnick, Gisela Köhler und Bärbel Mayer mit 45,1 Sekunden den Weltrekord. Bei Olympia startete dann, nach komplizierten Ausscheidungswettkämpfen, eine gesamtdeutsche Staffel mit Stubnick, Köhler und Mayer vom Berliner DynamoTeam und Maria Sander vom SSV 09 Dinslaken. Sander hatte 1952 über 80-Meter-Hürden bei der Olympiade Bronze geholt. Die gesamtdeutsche Staffel lief, wie die australischen Frauen, im Vorlauf mit 44,9 Sekunden Weltrekord. Im Endlauf klappten aber die Wechsel, die in dieser Zusammensetzung viel zu wenig trainiert werden konnten, nicht. Mit 47,2 Sekunden reichte es nur für Platz sechs. Über 80Meter-Hürden gewann Gisela Köhler die Silbermedaille, die man zumindest anteilig Jena zurechnen kann. Nach Weggang von Heinz Birkemeier Ende 1955 aus Jena hatte sich die Frauentrainingsgruppe fast aufgelöst. Annemarie Clausner hörte aus gesundheitlichen Gründen mit dem Leistungssport auf und Siegfriede Weber-Dempe aus Altersgründen.
Mit in Australien waren zwei Ringer, mit Alfred Tischendorf und Siegfried Schäfer waren es die ersten Jenaer Sportler nach dem Zweiten Weltkrieg, die den Sprung in die Olympiamannschaft schafften, zu denen für eine längere Geschichte aber authentisches Material fehlt. Jutta Langenau, die in Jena studiert hatte, aber für Erfurt startete, gehörte ebenfalls zum deutschen Olympiaaufgebot.