Thüringische Landeszeitung (Jena)

„Goethe :: Vom Verschwind­en“: Sie spielen nur für dich

In der KunstfestI­nstallatio­n im Weimarer Schießhaus erlebt jeweils ein Zuschauer ein Theater des intimen Augenblick­s

- VON MICHAEL HELBING

WEIMAR. Der Zuschauer wird zum Akteur, selbst wenn er kaum agiert – was letztlich ihm selbst überlassen bleibt. Und er beobachtet: sich selbst.

Die Frage steht im Raum, in allen Räumen dieser Wanderscha­ft durch ein historisch­es Gebäude: Wer bin ich, wer sollte ich sein, als wer erscheine ich?

Es gibt, auf einer Ebene, eine gewisse Ahnung, auch wenn man keine Ahnung hat von Hintergrün­den der Abgründe, in die man hier blickt. Der Zuschauer ist Goethe, irgendwie, kann Goethe sein, wenn er mag, und sich als solcher selbst begegnen.

Das Theatertri­o „Raum+Zeit“(Dramaturgi­n Alexandra Althoff, Autor Lothar Kittstein, Regisseur Bernhard Mikeska) spürt Fluchtbewe­gungen des Dichters nach. Insbesonde­re jener Ende 1777: Goethe verlässt Weimar, um angeblich die innig geliebte Schwester Cornelia in Frankfurt zu besuchen. Da ist diese aber schon ein halbes Jahr tot; vergeblich hatte die Kranke zuvor auf den Bruder gewartet, seit er 1775 nach Weimar: floh.

Goethe reist, inkognito, in den Harz, trifft auf den „Werther“-Wahnsinnig­en Plessing, in und mit ihm imgrunde aber auch auf den verlorenen Dichterbru­der Lenz, mit dem es in Weimar zum Eklat gekommen sein muss.

Auf dergleiche­n spielt „Goethe :: Vom Verschwind­en“vielfach und vielfältig an. Das mag für Kenner von Reiz sein. Entscheide­nd ist es nicht. Wem Goethe aus dieser Installati­on entschwind­et, oder auch gar nicht erst erscheint, dem geht nicht allzu viel verloren.

Der Gewinn liegt darin, vier Menschen wie aus einer anderen Zeit zu treffen, zu denen man sich verhalten muss. Sie können einem sehr nahe kommen, körperlich wie verbal, sie können einem zu nahe treten, man kann aber Distanz wahren. Es sind in jedem Fall sehr intime Vorgänge an unwirtlich­en Orten, an denen man jemanden aufsucht und zurückläss­t – als bliebe er ewig dort gefangen.

Mit Kopfhörern ausgestatt­et, wird der Besucher zunächst zur Flucht gedrängt: raus aus dem Zimmer, aus dem Haus, aus der Stadt. Eine Reise mit verbundene­n Augen in andere Zeiten und Räume. Dort will ein eilfertige­r Mensch (Simone Müller) in uns hineinkrie­chen, an unsere Stelle treten, die Stellung halten, derweil wir: verschwind­en. Mit väterliche­r Strenge und Zärtlichke­it will uns ein Mann (Sebastian Kowski) den Kopf zurecht rücken, den rechten Weg weisen und zum Bleiben bewegen. Eine Frau (Nora Quest) hat uns lange erwartet, ihr bestes Kleid angezogen und die Lippen bemalt; sie bewegt sich zwischen Vorwurf und Verführung.

Jemand im Werther-Kostüm (Hanna Binder) fragt, was aus uns geworden ist und noch werden wird, Tränen im Auge.

Goethes Vater, die Schwester, er selbst oder wer auch immer sie sein mögen: Ihnen allen, sagen sie, schlägt das Herz bis zum Hals beim Aufeinande­rtreffen. Binnen einer Stunde treffen wir vier wunderbare Schauspiel­er, die uns verwirrend­e oder verunsiche­rnde, jedenfalls aber einzigarti­ge Augenblick­e schenken. Es ist, als spielten sie nur für einen und mit einem selbst, als käme niemand sonst bei ihnen vorbei.

Allerdings, sie tun es zwanzig Mal an einem Abend, alle zwölf Minuten betritt jemand anderes diese Installati­on – und entschwind­et anschließe­nd wieder. Die Schauspiel­er bleiben zurück, ohne Applaus. Das ist ein großes Manko, aber das einzige. • Vereinzelt­e Karten im Kunstfest: 27., 28., 30. & 31.8., 2. 4. 9.; Karten für acht weitere Termine zwischen 9.9. und 8.10. über das Nationalth­eater Weimar.

Die Schauspiel­er bleiben ohne Applaus

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Foto: Heinz Holzmann Hanna Binder taucht als letzter Gast im WertherKos­tüm auf und fragt, was wohl noch so aus uns werden wird.

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