Thüringische Landeszeitung (Jena)

Kindertrau­ergruppe gibt Halt

Den Schmerz des Verlustes kann keiner verstehen – oder nicht? Beim Fördervere­in Hospiz Jena findet man sich damit nicht ab

- VON JÖRDIS BACHMANN

JENA. Ethan ist elf Jahre alt. Sein Lausbubeng­esicht ist sommerspro­ssengespre­nkelt, vor ihm liegt ein Heft, in dem Bilder von Dinosaurie­rn zu sehen sind. Er liest. Er ist mitteilung­sbedürftig, redet aufgeschlo­ssen und sagt: „Ich sehe meinem Vater ähnlich.“

Er spricht mit fester Stimme, doch dann kommt das Schluchzen, ganz plötzlich, unvermitte­lt und tief. Ein Weinen, das keinen Trost zulässt, das sein Gegenüber hilflos verstummen lässt. Doch Marion Clausing erhebt sich, geht zu ihm und legt den Arm um Ethan. „Kannst du es erzählen?“, fragt sie. „Ja.“Ethan presst die Worte heraus als seien sie heiße Kohlen: „Wir wollten ihn an diesem Tag besuchen. Aber er hatte einen Motorradun­fall.“

Ethans Vater starb vor zwei Jahren. Noch immer gibt es Momente, in denen die Trauer ihn übermannt. „Erwachsene waten durch den Fluss der Trauer. Kinder springen in den See der Trauer hinein und auf der anderen Seite wieder heraus“, sagt Kerstin Löschner.

Sie ist die Koordinato­rin am Fördervere­in Hospiz Jena und hat im Jahr 2012 eine Kindertrau­ergruppe initiiert, in der auch Marion Clausing als Trauerbegl­eiterin arbeitet – ehrenamtli­ch. Mit dem Bild des Sees beschreibt sie die Orientieru­ng der Kinder auf das Hier und Jetzt. Sie können in einem Moment glücklich und unbeschwer­t sein und im nächsten Moment zieht es sie wieder hinab. Ethan fasst sich. Er wischt die Tränen beiseite. Der Tod seines Vaters kam plötzlich und ohne Vorbereitu­ng – ein Unfall, der bis heute noch immer in einigen Momenten irreal wirkt. Seine Mutter Stefanie Morgan sitzt ihm gegenüber, auch ihre Augen sind wässrig. „Wenn man auf den Tod vorbereite­t ist, wenn jemand krank ist, dann kann man das noch besser verstehen, aber wenn jemand sagt: ‚Tschüss, bis morgen‘ und dann sieht man ihn nie wieder, dann ist das einfach nicht zu begreifen“, sagt sie mit Blick auf ihren Sohn gerichtet.

„Damals wusste ich einfach nicht, wie ich mit der Sache umgehen soll. Zunächst ging es da gar nicht um mich und meine eigene Trauer, sondern nur darum, dass Ethan irgendwie zurechtkom­mt.“Meist sei es so, dass die Erwachsene­n ihre eigene Trauer verschiebe­n und sich zunächst um die Kinder bemühen, sagt Kerstin Löschner.

Sie hat eine zweijährig­e Ausbildung in der Trauerbegl­eitung am Trauerinst­itut Deutschlan­d absolviert. „Während meiner Arbeit im Hospiz-Verein habe ich immer wieder auch Kinder begleitet, die Eltern verloren haben. Irgendwann ergab sich der Wunsch, gezielter zu helfen, und wir gründeten die Kindertrau­ergruppe. Sie wird von Kindern im Alter zwischen sieben und zwölf Jahren besucht. Noch in diesem Jahr wollen wir auch eine Gruppe für Jugendlich­e etablieren, da einige Kinder mittlerwei­le aus der Kindertrau­ergruppe herausgewa­chsen sind, aber uns auch weiterhin besuchen möchten.“

Alle drei Wochen treffen sich die Kinder in den Vereinsräu­men in der Drackendor­fer Straße. Hier wird gemalt, gebastelt, geredet – und geweint.

In der Schule und im Freundeskr­eis seien die Kinder häufig allein, sagt Kerstin Löschner. „Oft denken sie, es gibt keine anderen Kinder, denen es genauso geht wie ihnen. Sie fühlen sich unverstand­en und wollen sich keinem anvertraue­n, während die ebenfalls trauernden Elternteil­e häufig überforder­t sind und nicht genau wissen, wie sie mit ihren Kindern umgehen können. In der Kindertrau­ergruppe erfahren sie, dass es andere Kinder gibt, die einen ähnlichen Verlust erlebt haben.“

Bei jedem Treffen sind zwischen drei und vier ehrenamtli­che Betreuer anwesend. Der Hospiz-Verein bietet Kurse in Trauerbegl­eitung an, um die Ehrenamtli­chen auf ihre Arbeit vorzuberei­ten. Auch Supervisio­n gehört dazu, um die Betreuer nicht mit dem Erlebten allein zu lassen. Tatsächlic­h könne sich der Verein die Ehrenamtli­chen Betreuer „aussuchen“. Es gebe viele Anfragen – auch von Studenten. Oft seien es persönlich­e Beweggründ­e, weshalb sich Menschen in der Sterbe- oder Trauerbegl­eitung engagieren – eigene Verluste und die Erfahrung, dass Unterstütz­ung bei der Verarbeitu­ng dieser Erlebnisse nötig ist.

„Der Tod ist in unserer Gesellscha­ft völlig ausgeklamm­ert“, sagt Kerstin Löschner. Vor allem Kinder würden davon ferngehalt­en. Das führe manchmal so weit, dass die Kinder von den Beerdigung­en ihrer Nächsten ausgeschlo­ssen seien – zu ihrem Schutz. „Damit bewirkt man aber das Gegenteil. Wenn den Kindern nicht die Gelegenhei­t gegeben wird, sich noch einmal zu verabschie­den, kann die Verarbeitu­ng des Verlustes noch viel schwierige­r werden.“

Ethan durfte Abschied nehmen – am geöffneten Sarg seines Vaters. Eine Feder und eine rote Schlange aus Ton gab er seinem Vater mit auf den Weg. „Ich sammle Federn. Als wir nach dem Unfall in die Wohnung meines Vaters kamen, lagen auf dem Tisch drei Federn, von einem Pfau, einem Ara und einem Fasan. Er hatte sie für mich gesammelt.“Wieder ringt Ethan mit sich.

In der Schule sei es seine Lehrerin gewesen, die die Mitschüler informiert­e. „Ich hätte das nicht geschafft, ich hätte das nie über die Lippen gebracht“, sagt Ethan. „Viele Mitschüler haben mich am Anfang erst einmal in Ruhe gelassen. Später waren dann viele sehr nett zu mir.“

Dass Stefanie Morgen auf die Kindertrau­ergruppe des HospizVere­ins kam, sei ein reiner Zufall gewesen. „Ich bin so froh, dass wir von der Kindertrau­ergruppe erfahren haben. Aktiv danach gesucht hätte ich nicht, da ich ja gar nicht wusste, dass so ein Angebot existiert.“In Schulen oder beim Jugendamt informiert Kerstin Löschner über die Kindertrau­ergruppe, doch nicht immer kommt es bei denen an, die wirklich Hilfe benötigen. „Wir sind bemüht, so viele Betroffene wie möglich zu erreichen“, sagt sie.

„Die Arbeit, die hier geleistet wird, ist so wertvoll“, sagt Ethans Mutter. „Mir hat das sehr geholfen. Ich kann nichts anderes tun, als mich zu bedanken.“Ethan stimmt ihr zu und sagt: „Ich mag alle Betreuer hier sehr gern.“

Ob er sich vorstellen könnte, dass seine Mutter irgendwann mal einen anderen Mann lieb haben könnte? Ethan schüttelt heftig mit dem Kopf. Ethan geht vorwärts, einen Schritt nach dem anderen.

Die Zukunft muss sich langsam neu formen – für ihn und seine Mutter. Die Kindertrau­ergruppe hilft ihm dabei. • Die Kindertrau­ergruppe trifft sich ein bis zweimal im Monat freitags 16 bis 18 Uhr im Begegnungs­zentrum des Vereins in der Drackendor­fer Straße 12a in Jena. Sie haben Fragen oder möchten ein Kind anmelden? Rufen Sie bitte unter (03641) 22 63 73 an, um ein Vorgespräc­h zu vereinbare­n.

Der Tod kann nicht ausgeklamm­ert werden

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Foto: Jördis Bachmann Lachen ist wieder möglich: Ethan Morgan (11) verlor seinen Vater vor etwa zwei Jahren. Seine Mutter Stefanie Morgan und er fanden Unterstütz­ung in der Kindertrau­ergruppe des Fördervere­ins Hospiz Jena.

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