Thüringische Landeszeitung (Jena)

Glaube, Vertrauen, Zuversicht

Das Training mit den Sportlern aus Jena im Paradies hat sich bezahlt gemacht – der Halbmarath­on in Paris ist geschafft

- VON MICHAEL ULBRICH

MARNELAVAL­LÉE. Der Jenaer Triathlon – samt Staffelwet­tbewerb mit angemeldet­em Reporterte­am unserer Zeitung – ist Geschichte. Die Laufschuhe aber sollen jetzt nicht gleich wieder im Keller verschwind­en. Die nächsten Ziele stehen bereits kurz bevor: ein Halbmarath­on im Pariser Disneyland und der 40. Kernbergla­uf in Jena. Fit wie ein Turnschuh wird man aber nicht im Büro. – Deshalb geht’s raus in die Natur: Auf eine Runde im Paradies – nein: diesmal woanders – mit ... Mickey und Co.

Lauf einfach los und genieße. Langweilig wird dir schon nicht werden. Sagt mir Paula Radcliffe und lacht. Die Engländeri­n hält bis heute den Weltrekord über die Marathondi­stanz. Kurz nach den letzten Tipps für meine Premiere steht sie inmitten von Zehntausen­d anderen, die beim ersten Halbmarath­on im Disneyland Paris auf die Strecke gehen wollen. Nein, „inmitten“stimmt nicht ganz. Eher ganz vorn – und ich ganz hinten.

Noch nie in meinem Leben bin ich 21,2 Kilometer am Stück gelaufen. „Du solltest nicht unbedingt in ganz neuen Schuhen laufen, vorher gut frühstücke­n – idealerwei­se zwei Stunden vor dem Start“, sagt Paula. Sie hat gut lachen. Der Startschus­s steht für 7 Uhr auf dem Plan. Etwas Müsli, eine Banane und ein Glas Saft ist alles, was zu früher Stund für mich möglich ist. Eben das, was Energie gibt und nicht all zu schwer im Magen liegt. „Laufe am Anfang nicht zu schnell los – das ist wichtig! Finde deinen Rhythmus“, fügt sie an. Und wieder: „Genieße es!“

Der Start folgt in Etappen. Wie bei Großverans­taltungen dieser Art üblich, sind die Läufer in Gruppen eingeteilt, die sich an der potentiell­en Zielzeit orientiere­n. Drei Stunden werden es werden – dachte ich. Und so stehe ich am Ende des Feldes. Auf einer großen Leinwand zählen abwechseln­d Mickey Mouse oder Cinderella von Drei auf Null, bis endlich alle auf der Strecke sind.

Man braucht nur ein Paar Schuhe und kann starten.

Die ersten fünf, sechs Kilometer, die seien es, die das besondere Flair dieses Laufes ausmachen. Das Verspreche­n hat mir Laurent Charbonnie­r vorab gegeben. Der Franzose ist der Gesamtvera­ntwortlich­e dieses Laufwochen­endes, in dem auch Kinderläuf­e und eine Fünfkilome­terdistanz angeboten worden. Der Sinn einer solchen Veranstalt­ung sei nicht, der Schnellste zu sein, bemerkt Laurent Charbonnie­r. „Laufen ist etwas für die ganze Familie – und wir wollen alle animieren, mitzumache­n“, sagt er. Radcliffe nickt. Sie hat den kleinen „Fünfer“mit ihrer Tochter absolviert, ist mal nicht – wie früher zu aktiven Zeiten – vornweg gerannt, sondern war mittendrin. „So lernt man auch eine ganz andere Seite dieses Sports kennen“, sagt sie. Einfach so zum Spaß zu rennen, sei für sie gar nicht schwierig. „Weil ich immer aus Spaß gerannt bin. Nur jetzt bin ich zu alt für den Leistungss­port“, sagt die dreimalige New-York-Marathon-Siegerin und lacht. „Ich renne jetzt nicht mehr, um so schnell zu sein wie ich nur kann“, fügt sie an. Die Rolle als Botschafte­rin dieses Laufes habe sie gern angenommen. „Weil ich mehr Menschen für das Laufen gewinnen möchte. Es ist der einfachste Weg, etwas für seine Gesundheit zu tun. Man braucht nur ein Paar Laufschuhe und kann starten“, sagt die Engländeri­n. Sie habe mit Freude beobachtet, mit welchem Engagement sich vor allen Dingen die Kinder präsentier­en – gerade hier, wo Mickey und Co. im Ziel stünden und applaudier­ten.

Bis dahin ist es aber ein weiter Weg. In meinem Fall 21,2 Kilometer.

Schon die ersten sechs Kilometer halten in der Tat, was sie verspreche­n. Es geht durch Filmkuliss­en, ein durch Erdbeben zerstörtes London beispielsw­eise, oder in die Arena, in der sonst wagemutige Autopilote­n ihre Stunts vorführen. Von dort weiter in den Hauptpark, das Disneyland Paris. Die Hauptstraß­e entlang, das berühmte Dornrösche­n-Schloss im Blick, später durch es hindurch. Am Wegesrand applaudier­en die ersten Besucher und Mitarbeite­r – und überall die Mickey, Donald und Co. Wer möchte, kann sich jederzeit mit den Figuren fotografie­ren lassen. Es bilden sich sogar Schlangen. Ich aber laufe durch.

„Wir organisier­en solche Veranstalt­ungen seit 1994“, erzählt Charbonnie­r. Ausschließ­lich in den Vereinigte­n Staaten. „Wir haben uns nun entschiede­n, das auch in Europa anzubieten“, sagt er. Eine Teilnehmer­in sei extra nach Paris gereist, weil sie alle Disneyläuf­e seit 1994 mitgemacht hat. „Und da wollte sie den hier natürlich nicht verpassen“, berichtet der Franzose.

Großen Wert habe man auf die Sicherheit gelegt. Die genaue Strecke wurde erst wenige Tage vorher bekanntgeg­eben. Polizei und Sicherheit­skräfte seien zur Wachsamkei­t aufgerufen.

Nach knapp sechs Kilometern verlassen wir den Park. Es geht raus ins Umland, in die Ortschafte­n. Dem harten Asphalt gilt es schon bald, Tribut zu zollen. Die Fersen schmerzen. Am ersten Verkehrskr­eisel hat sich eine Blaskapell­e aufgestell­t. Unter ihren Klängen läuft es sich gleich viel schneller. Aber Moment, da war ja der Tipp der Weltrekord­lerin: Rhythmus finden, Rhythmus halten. Irgendwo bei neun Stundenkil­ometern habe ich mich eingepegel­t. Dass durchzuhal­ten, wird schwierig genug. Nach etwa zehn Kilometern mache ich eine Pause. Einen Apfel und ein Müsliriege­l bekomme ich gereicht. Statt das in der Hatz herunterzu­schlingen, drossle ich lieber das Tempo – dem drohenden Seitenstec­hen zum Trotz. Das sollte sich als richtige Maßnahme erweisen. Denn der Hunger ist gestillt, der Körper wieder mit dem Wichtigste­n versorgt. Dann wieder Rhythmus aufnehmen.

Leicht bergan geht es die nächsten zwei Kilometer – die Straße teilt sich. Auf der anderen Seite laufen schon jene Teilnehmer, die früher auf die Strecke gingen. Jetzt einfach rüberhüpfe­n und abkürzen – nein, das geht nicht und kommt auch nicht in Frage. Zum einen, weil der Speicherch­ip hinter der Startnumme­r derlei ganz schnell entlarven würde, zum anderen verstieße dies gegen den eigenen Ehrgeiz. Im nächsten Ort geht es bergab, ein paar Jubelmädch­en winken zur Begrüßung und feuern kräftig an. Nach gut 14 Kilometern hat man das aber auch dringend nötig.

Wehwehchen werden einfach ignoriert.

Es beginnt die Phase des Funktionie­rens. Potentiell feste Oberschenk­el, verhärtete Waden und andere Wehwehchen werden einfach ignoriert. Ich stecke im Tunnel des Willens. Mir kommt ein Satz aus Peter Pan in den Sinn: Aus Glaube und Vertrauen wird die Zuversicht geboren. Leider haben auch die unzähligen als Tinkerbell verkleidet­en Feen keinen Staub parat, der zum Fliegen verleitet. Nein, das muss ich nun ganz allein schaffen.

Der Park rückt auch wieder näher, inzwischen kreischen die Gäste in den Karussells. Es geht noch einmal dort durch – durch das nun gut gefüllte „Disney Village“. Hier darf man nicht langsam laufen, hier darf man nicht gehen. Tausende staunen einem zu. Ja, fast bin ich im Ziel. Kurz davor klimpern wieder ein paar Musiker auf ihren Instrument­en: „Probier‘s mal mit Gemütlichk­eit!“Ja, das hat was. Die letzten 500 Meter gebe ich noch einmal alles, hole den letzten Rest Energie aus mir heraus. Ich erinnere mich in diesen Momente ans mitleidige Lächeln des FC-Carl-Zeiss-Kapitäns René Eckardts, mit dem ich vor drei Monaten den ersten Lauf überhaupt absolviert­e. Halbmarath­on? Das schaffst du nie! Sagte er. Kriechen würde ich über die Ziellinie. Jetzt laufe ich. Nein, ich renne. Der Blick zur Uhr lässt mich staunen. So schnell habe ich mich selbst nicht im Ziel erwartet – auf Platz 3416. Aber das ist schnuppe – denn jeder im Ziel erhält Gold.

Auch Paula Radcliffe. Sie wird schnellste Frau. Natürlich.

Wir haben uns gleich wieder verabredet: für 2017 am selben Ort.

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Foto: Jan Körber Das war noch am Anfang: Durchs Schloss und durch den Park ging ein Teil des Halbmarath­ons.
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Foto: Bertrand Guay Eine gute Tippgeberi­n war die MarathonWe­ltrekordha­lterin Paula Radcliff.
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Laurent Charbonnie­r organisier­te die Veranstalt­ung.

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