Thüringische Landeszeitung (Jena)

Honeckers geglättete Wahrheiten

Gespräch mit dem Historiker Martin Sabrow, der über die Jugendjahr­e des einstigen DDRPartei und Staatschef­s forscht

- VON HANNO MÜLLER

Prof. Sabrow, wenn heute der Name Honecker fällt, runzeln viele gelangweil­t die Stirn. Was war für Sie spannend? Die Beschäftig­ung war alles andere als langweilig. Die historisch­e Recherche und die Kontextual­isierung haben viele Fakten herausgeho­ben. Anhand der erlebten Umstände dieser Biografie versteht man Honeckers Leben besser. Spannend war die Differenz zwischen dem, was Honecker selbst über sein Leben erzählt hat, und der Einordnung in größere Zusammenhä­nge aus der Perspektiv­e des Historiker­s.

Was stellt sich anders dar?

Ein Beispiel ist das Schicksal seines jüngsten Bruders Robert. Bei Honecker heißt es, wir waren fünf und standen alle zur roten Fahne. Aber Robert Honecker war im nationalso­zialistisc­hen Saarland in der Hitler-Jugend und stieg zum Gefolgscha­ftsführer auf. In der Familie glaubte man sogar, dass Robert in der SS war, weshalb Honeckers Schwester vor ihrem Tod alles darüber verbrannte. Honecker schrieb in seiner Autobiogra­fie, die Nazis hätten ihn haben wollen, sie hätten ihn aber nicht bekommen. Doch Robert starb erst 1947 nach der englischen Kriegsgefa­ngenschaft, und Erich Honecker tabuisiert­e seinen Bruder in seinen Memoiren zwar nicht, aber er interpreti­erte seine Geschichte in einer ihm genehmen Weise.

War Honecker der, der er in der DDR vorgab zu sein?

Ja und nein. Honecker erzählte sich und der Welt sein Leben glatt. In der Darstellun­g seiner Lebensgesc­hichte nahm er einzelne gezielte Glättungen und auch Auslassung­en vor – oder ließ sie doch von seinen Ghostwrite­rn vornehmen. Seine erste Ehefrau, eine NS-Gefängnisw­ärterin und Bekanntsch­aft aus seiner Haftzeit, schien ihm nicht erzählbar, also ließ er sie als Person aus. Komplett verleugnen wollte er sie im Interesse seiner persönlich­en Wahrhaftig­keit aber auch nicht, sondern spaltete sie in drei verschiede­ne Rollen in seinem Leben auf. Die Biografie gibt es nicht her, ihn als Lebenslügn­er abzustempe­ln.

Nach der Wende hieß es, er habe nach seiner Festnahme eine Mitstreite­rin – die Kurierin Sarah Fodorová – vor Gericht an die Nazis verraten?

Das stimmt so nicht. Behauptet wurde auch, Fodorová sei zum Tode verurteilt worden. Sie hat aber im englischen Exil überlebt und sich nach 1989 aus Israel gemeldet, um Honecker vor ungerechtf­ertigten Angriffen in Schutz zu nehmen. Honecker hat 1935 nach der Verhaftung, die ihn unvorberei­tet traf, tatsächlic­h scheinbar rückhaltlo­s ausgesagt. Leugnen wäre allerdings auch zwecklos gewesen. Die Gestapo hatte ihn schon länger beobachtet. Letztlich war das die bessere Strategie als die von Fodorová, die zunächst alles abstritt. So gab sich die Geheimpoli­zei relativ schnell zufrieden und verzichtet­e auch auf die Anwendung körperlich­er Gewalt.

Im Gedächtnis geblieben ist der abgemagert­e Greis mit Fistelstim­me und trotzig emporgerec­kter Faust – wie passt der zum kämpferisc­hen Jungkommun­isten in Ihrer Biografie?

Das hat mich auch frappiert. Aber natürlich ist auch Honecker als Achtzigjäh­riger nicht mehr der gewesen, der er als energiegel­adener Jugendlich­er war. Und an der Saar klang seine später oft belächelte Stimmer weniger unverständ­lich oder lächerlich als in Berlin. Viel wichtiger als die körperlich­e Veränderun­g erscheint mir, wie unterschie­dlich Honecker gesehen wurde. In dem Moment, wo Honecker die Herrschaft in der DDR übernahm, trat ein Regime der Entzeitlic­hung ein. Kommuniste­n haben nach eigener Lesart nie Fehler gemacht, die Partei hat immer Recht. Honecker wurde unter dieser Vorgabe zu einer aus Raum und Zeit entrückten Figur unbestimmt­en Alters, die allenthalb­en von der Wand herab schaut. Erst die opposition­elle Herrschaft­skritik der Wendezeit brachte das Moment der zeitlichen Vergänglic­hkeit zurück und machte aus Honecker den Alten, der er längst war.

„Honecker erzählte sein Leben glatt. Die Biografie gibt es nicht her, ihn als Lebenslügn­er abzustempe­ln.” Martin Sabrow (62), Historiker

Im Widerstand wie auch bei Enttrümmer­ungseinsät­zen in der Gefangensc­haft stand Honeckers Leben oft auf der Kippe – hatte er einfach Dusel?

Man staunt schon, wie viel Honecker mit Ausdauer und Kaltblütig­keit durchzuste­hen vermochte. Da waren die Bombeneins­ätze in Berlin, dann die Flucht aus dem Gefängnis im März 1945 in einer untergehen­den Reichshaup­tstadt, in der jeder, der ohne gültige Papiere angetroffe­n wurde, mit Hinrichtun­g rechnen musste – wie lange konnte man das überleben? Honeckers Mut zum Widerstand nötigt mir einerseits tiefen Respekt ab. Und zugleich erschreckt mich die Sinnlosigk­eit dieses Kampfes. Junge Leute, die zur illegalen Arbeit für die kommunisti­sche Sache bereit waren, wurden meist bald gefasst. Sie wurden bis zur Unkenntlic­hkeit gefoltert und getötet. Und trotzdem opferten sich immer wieder Menschen „für die Sache“. Das ging nur, weil der Mut gepaart war mit einer rückhaltlo­sen Gläubigkei­t an die Kirche des Stalinismu­s in Moskau. Bei Honecker blieb das so bis 1994.

Wie schwer war es, Privates oder Intimes über Honecker herauszufi­nden?

Das Wenige, was es an Privatlebe­n gab, ist für einen Historiker, der die Biografie als Schlüssel zum Verständni­s des Jahrhunder­ts der Extreme nutzt, gar nicht so interessan­t. Deutlich wird aber schon, dass Honecker offenbar ein reges Beziehungs­leben hatte. Viele seiner Frauenbeka­nntschafte­n waren im Widerstand eingebunde­n.

Die schon erwähnte erste Ehefrau Charlotte Schanuel kannte er aus der Haft – war die Hochzeit zwischen dem Kommuniste­n und der NSWärterin nicht ein Sakrileg?

Sie kannten sich von den Rettungsun­d Aufräumein­sätzen nach Bombenangr­iffen, für die Honeckers Bautrupp ins Berliner Frauengefä­ngnis Barnimstra­ße abkommandi­ert wurde. Die rückten dort jeden Morgen unter Lebensgefa­hr aus – in diesen Grenzsitua­tionen verschoben sich die Hierarchie­n zwischen Bewachern und Gefangenen. Nach einem schweren Treffer auf das Gefängnis mit 23 Toten im Februar 1945 nahmen beide couragiert die Rettungsak­tion in die Hand und wurden dafür auch von der Generalsta­atsanwalts­chaft in Berlin belobigt. Wie sich die Kontaktauf­nahme im Einzelnen abspielte oder ob es schon da eine intime Beziehung gab, wissen wir nicht. Die Hochzeit findet dann erst Ende 1946 statt, die Trauzeugen kamen übrigens alle aus dem Kreis der Frau. Honecker lebte da eine Art Parallelle­ben zwischen Privatem und Politische­m. Hinsichtli­ch seiner weiteren Karriere kam ihm vermutlich der frühe Tod von Schanuel entgegen.

Ein Instrument kommunisti­scher Kaderkontr­olle waren die Fragebögen, die regelmäßig ausgefüllt werden mussten – auch von Honecker. Widerspric­ht er sich in diesen?

Von Honecker ist ein knappes Dutzend solcher Fragebögen überliefer­t. Sie lagen in seiner Kaderakte im SED-Parteiarch­iv, das sich heute im Bundesarch­iv befindet. Da finden sich durchaus innere Widersprüc­he. So lastete man ihm später an, er habe seinen Parteieint­ritt vorgezogen und damit gefälscht. Ich sehe darin aber eher eine Nachlässig­keit. Er wurde auch nicht so oft verhaftet, wie er dort angibt. Die Ausbildung als Dachdecker hat er nie abgeschlos­sen, sich aber als solcher bezeichnet und ja auch in der Gefangensc­haft als Dachdecker gearbeitet.

Eine wichtige Bezugspers­on Honeckers – neben Thälmann und Stalin – war Herbert Wehner, der nach dem Krieg von den Kommuniste­n zur Sozialdemo­kratie wechselte. Warum verlaufen die Wege beider nach 1945 so unterschie­dlich?

Honecker kam 1935 ins Gefängnis und blieb in seiner intellektu­ellen Entwicklun­g mangels Möglichkei­ten zur Horizonter­weiterung bis 1945 mehr oder minder stehen. Der Glaube an Stalin bleibt in der Haft überlebens­wichtiger Halt. Wehner begleiten schon seit den späten 30er-Jahren Zweifel am kommunisti­schen Kampf und der Weisheit der Führung. Er ist der misstrauis­chste und zerrissens­te Kommunist, dem ich in der Geschichte des kommunisti­schen Widerstand­s begegnet bin. In die sowjetisch­e Besatzungs­zone konnte er nach 1945 nicht, weil ihn Pieck und Ulbricht dort nicht wollten. Zu einem wichtigen Grund für die Ablösung Wehners von der KPD aber wurde der Ausschluss aus der Partei 1942, von dem er aber erst 1944 oder 1945 erfuhr. Als Wehner sich in den 1970ern in der DDR für die Häftlingsf­reikäufe einsetzt, nähern sich beide wieder etwas an. Zum 80. Geburtstag von Wehner gratuliert­e Honecker dem „verehrten Genossen“auf der Titelseite des „Neuen Deutschlan­d“.

Letztlich ebnete Walter Ulbricht Honecker den Weg in den engeren Zirkel der Macht. Die Begegnung zwischen beidenwarZ­ufall–hätteesauc­h anders kommen können?

Sagen wir, es war fast zufällig. Honecker hatte im Mai 1945 auf der sowjetisch­en Kommandant­ur in Berlin zu tun und traf dort alte Bekannte, die eine Begegnung mit Ulbricht vermittelt­en. Der suchte gerade einen unbelastet­en und tatkräftig­en Jugendfunk­tionär für die antifaschi­stische Umerziehun­g der jungen Generation. Da war Honecker der richtige Mann im richtigen Moment, nicht durch Flügelkämp­fe zerrieben, nicht schon aus der Weimarer Zeit auf eine Fraktionsr­ichtung festgelegt, im Widerstand bewährt, im Zuchthaus unauffälli­g.

Honecker ist 20 Jahre tot, die DDR Vergangenh­eit. Wie soll man nun Ihrer Meinung nach diese Biografie lesen?

Zum einen ist es die Geschichte eines dramatisch­en Scheiterns, zum anderen aber auch die Geschichte einer heroischen Auflehnung gegen das Verderben der Welt. Es ist die Lebensgesc­hichte eines der bedeutende­ren deutschen Machthaber­s des 20. Jahrhunder­ts. Das Buch zeigt, wie diese Lebensgesc­hichte in der DDR mit allen Kräften abgeschirm­t und behütet wurde, damit sie ihre identitäts­stiftende Funktion nicht verlor. Partei und Stasi wachten über die Quellen. Für mich hilft die Mischung von autoritäre­r Kontrolle und subjektive­r Wahrhaftig­keit dabei, um den vierzigjäh­rigen Bestand der SED-Herrschaft zu begreifen. Sie beruhte nicht in erster Linie auf nackter Repression. Sie lebte auch von Überzeugun­g, Überredung und aufwendig organisier­ter Selbstvers­tändlichke­it.

 ??  ?? Der Pass, ausgestell­t auf den Decknamen „Marten Tjaden“, mit dem Honecker im August 1935 illegal nach Berlin einreiste und den er bei sich hatte, als ihn die Gestapo im gleichen Jahr verhaftete. Foto: Archiv Frank Schumann/Edition Ost
Der Pass, ausgestell­t auf den Decknamen „Marten Tjaden“, mit dem Honecker im August 1935 illegal nach Berlin einreiste und den er bei sich hatte, als ihn die Gestapo im gleichen Jahr verhaftete. Foto: Archiv Frank Schumann/Edition Ost
 ??  ?? Martin Sabrow: Erich Honecker. Das Leben davor – 1912 bis 1945, 620 Seiten, Verlag C. H. Beck, 27.95 Euro
Martin Sabrow: Erich Honecker. Das Leben davor – 1912 bis 1945, 620 Seiten, Verlag C. H. Beck, 27.95 Euro
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