Thüringische Landeszeitung (Jena)

Inklusion: Auszeichnu­ng für Firmen

Lebenshilf­eVorsitzen­de Birgit Dietzel: „Alle müssen ihren Anteil daran leisten“

- VON FABIAN KLAUS

JENA. Zum vierten Mal wird in Jena heute der Akzeptanz-Preis verliehen. Neun Thüringer Firmen, die sich im Bereich Inklusion besondere Verdienst erworben haben, sind nominiert.

Gemeinsam mit Thüringens Sozialmini­sterin Heike Werner (Linke) – sie ist Schirmherr­in der Veranstalt­ung – nimmt Lebenshilf­e-Vorsitzend­e Birgit Dietzel die Auszeichnu­ng vor.

Dietzel bezeichnet­e die Unternehme­r, die für den Preis nominiert sind, im TLZ-Gespräch als „Pioniere und Vorreiter“. Vor allem die Partnersch­aften mit den Industrie- und Handelskam­mern, der Handwerksk­ammer und dem Thüringer Bauernverb­and hob Dietzel loben hervor.

Mit Blick auf das Bundesteil­habegesetz, das derzeit erarbeitet wird, erklärte die Lebenshilf­e-Vorsitzend­e, dass es bei der Ausgestalt­ung einzelner Punkte noch Nachbesser­ungsbedarf gebe. Vor allem Menschen mit einer geistigen Behinderun­g oder mit mehrfacher Behinderun­g würden nicht ausreichen­d berücksich­tigt. Dort komme es oft darauf an, auf den Einzelfall zu schauen, sagte sie im Interview.

JENA. Das Bundesteil­habegesetz treibt Birgit Dietzel derzeit um. Nicht aus politische­n Gründen, sondern weil die ehrenamtli­che Vorsitzend­e der Lebenshilf­e dort viele Bereiche noch als nicht ausreichen­d geregelt empfindet. Der Thüringer Landesverb­and der Lebenshilf­e werde dazu seine Stimme erheben, kündigt die Vorsitzend­e an. Heute kann sie aber zunächst auf einen freudigen Anlass blicken: Gemeinsam mit Thüringens Sozialmini­sterin Heike Werner (Linke) verleiht sie den Akzeptanz-Preis an im Bereich der Inklusion engagierte Thüringer Unternehme­n.

Sie verleihen heute gemeinsam mit Sozialmini­sterin Heike Werner zum vierten Mal den AkzeptanzP­reis an Unternehme­n, die beim Thema Inklusion in Thüringen Vorreiter sind. Wird Inklusion überall gleich gut vorangebra­cht in den Firmen?

Wir setzen eine gute Tradition fort, dass Vertreter der Thüringer Landesregi­erung die Schirmherr­schaft für unseren Unternehme­nspreis „Akzeptanz“übernehmen und freuen uns, dass die Sozialmini­sterin in diesem Jahr dabei ist. Wir haben über die Jahre hinweg eine gute Entwicklun­g erlebt, die auch etwas mit der positiven Entwicklun­g am Arbeitsmar­kt zu tun hat. Als Lebenshilf­e arbeiten wir schon seit 25 Jahren in Thüringen mit Unternehme­n gut zusammen. Durch die UN-Behinderte­nrechtskon­vention hat diese Zusammenar­beit einen deutlichen Aufschwung erlebt.

Welche Folgen hatte das?

Eine Folge ist zum Beispiel der bereits angesproch­ene Akzeptanz-Preis. Wir haben uns als Lebenshilf­e Partner in der Thüringer Handwerksk­ammer, bei den Thüringer Industrie- und Handelskam­mern und seit vorigem Jahr auch beim Thüringer Bauernverb­and gesucht. Wir wollen mit ihnen gemeinsam aufmerksam machen auf tolle Projekte und engagierte Unternehme­n. Denn Inklusion ist ein immerwähre­nder Prozess.

Wird dieser irgendwann einmal beendet sein?

Nein. Wir setzen uns als Lebenshilf­e ein für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderun­g. Inklusion, das ist uns wichtig, kann nicht verordnet werden, sie muss wachsen. Sie muss von der Frühförder­ung über den Kindergart­en bis in die Unternehme­n hinein gelebt werden. Denn klar ist auch: Menschen mit Behinderun­g können der Gesellscha­ft viel geben.

Beschreibe­n Sie das bitte näher.

Sie können zum Beispiel sehr deutlich zeigen, dass sie eigene Potenziale und Leistungsf­ähigkeit haben und dass man mit einem Handicap ein voll integriert­es Mitglied beispielsw­eise eines Teams im Unternehme­n sein kann. Wir sollten dabei auch nie vergessen, dass jeder von uns jeden Tag auch mit einem Handicap konfrontie­rt werden kann.

Ist diese Botschaft in der Gesellscha­ft präsent?

Nicht immer. In unserer Leistungsg­esellschaf­t meint man stets, dass es morgen so weitergeht, wie es heute endet. Das menschlich­e Leben ist vielfältig und kostbar, jeder trägt seinen Teil dazu bei. Auch behinderte Menschen, die sich einbringen wollen und sehr empathisch­e und liebenswer­te Menschen sind, die Dinge zum Ausdruck bringen, bei denen wir uns manchmal zügeln. Das bereichert das Zusammenle­ben enorm.

Wie trägt die Lebenshilf­e in Thüringen dazu bei, dass diese Botschaft in der Gesellscha­ft ankommt?

Wir machen immer wieder deutlich, dass Menschen mit Behinderun­g ein wertvoller Teil unserer Gesellscha­ft sind und versuchen als Lebenshilf­e, Interessen­vertreter für diese Menschen zu sein, einerseits. Auf der anderen Seite geben wir Hilfe und machen Angebote in insgesamt 37 Mitgliedso­rganisatio­nen mit mehr als 7100 Menschen in ganz Thüringen. Ganz wichtig dabei ist, dass die Eltern, die Angehörige­n von Menschen mit Behinderun­g bei uns mitarbeite­n und mit in den Vorständen sitzen. Denn die Lebenshilf­e ist einmal von Eltern gegründet worden, das sind unsere Wurzeln. Wenn Sie Interessen­vertreter sind, dann erheben Sie auch die Stimme gegenüber den politische­n Vertretern. Wo müssen Sie das zurzeit besonders deutlich machen? Bei der Diskussion um das Bundesteil­habegesetz. Das treibt uns derzeit besonders um. Gemeinsam mit der Parität haben wir dazu in den letzten Monaten das Gespräch mit den Thüringer Bundestags­abgeordnet­en gesucht.

Was beschäftig­t Sie am meisten dabei?

Wir merken jetzt, dass wir die Abgeordnet­en sensibilis­iert haben dafür, sich anzuschaue­n, was ihre Kollegen im Sozialauss­chuss erarbeiten und was die Bundesregi­erung an dem Gesetz dann ändern will. Das ist sehr umfangreic­h mit 150 Seiten und noch mal 600 Seiten Erläuterun­g dazu. Es ist nicht einfach, das durchzuarb­eiten, wenn man im sozialen Bereich kein Experte ist. Was bewegt Sie beim Bundesteil­habegesetz besonders? Zunächst muss man sagen, dass der Ansatzpunk­t richtig ist, zu sagen, dass Menschen mit Behinderun­g an der Gesellscha­ft teilhaben und nicht als soziales Anhängsel betrachtet werden. Auf die einzelnen Ausgestalt­ungen blicken wir allerdings an manchen Punkten kritisch.

Warum?

Es reicht nicht aus, zu sagen, man hat bei der Einschränk­ung in fünf Lebensbere­ichen, bisher sind es drei, einen Anspruch auf Teilhabe. Auch bei der Finanzieru­ng des ambulanten Wohnens sehen wir Nachbesser­ungsbedarf. Es ist wichtig, dass Menschen mit Behinderun­g die unterschie­dlichsten Wohnformen nutzen können, so, wie jeder junge Mensch, der daheim auszieht. Der ambulanten Hilfe wird hier nicht der Stellenwer­t gegeben, den sie bräuchte. Das halten wir für kritisch und deshalb erheben wir auch dagegen die Stimme. Das haben wir den Bundestags­abgeordnet­en mitgeteilt. Wir beteiligen uns deshalb auch an der Bundestags­petition.

Kann ein Mensch mit geistiger Behinderun­g immer und überall teilhaben oder muss es aus Ihrer Sicht da Einschränk­ungen geben?

Grundsätzl­ich muss es keine Einschränk­ungen geben. Es gibt Menschen mit Behinderun­g, die müssen betreut werden, und dann wieder Menschen, die ein leichteres Handicap haben. Man muss auf die Einzelfäll­e schauen. Wir fühlen uns verpflicht­et, auf solche Feinheiten im Gesetz aufmerksam zu machen. Deshalb haben wir auch mit den Thüringer Abgeordnet­en, die im Bundestag sitzen, das Gespräch gesucht, um genau darauf aufmerksam zu machen.

Wird Ihnen beim Thema geistige Behinderun­g zu sehr verallgeme­inert?

Es wird unter dem großen Begriff Behinderun­g gesehen. Geistige Behinderun­g ist aber noch einmal eine andere Form, auf die man aufmerksam machen muss. Oft wird mit Behinderun­g keine geistige, sondern eine körperlich­e Einschränk­ung beschriebe­n. Das Bundesteil­habegesetz muss die Bedürfniss­e von Menschen mit geistiger Behinderun­g noch stärker berücksich­tigen.

Also die klare Aussage: Keine Verallgeme­inerung von Be hinderung im Teilhabege­setz, sondern die Betrachtun­g der Einzelfäll­e.

Richtig. Es muss differenzi­ert werden und ein besonderes Augenmerk auch Menschen mit geistiger Behinderun­g zukommen. Das sind die Menschen, die wir vertreten. Insbesonde­re kommen uns Menschen mit schweren Behinderun­gen zu kurz. In dem neuen Bundesteil­habegesetz werden Menschen mit schwerer Behinderun­g nach wie vor in einem Förderbere­ich betreut und haben keinen Anspruch auf Leistungen der berufliche­n Bildung, weil sie nicht das sogenannte „Mindestmaß an wirtschaft­lich verwertbar­er Arbeit“verbringen. So steht es im Gesetzentw­urf und das ist nicht mit Inklusion vereinbar. Wenn ich das Wort Inklusion im Kontext des Bundesteil­habegesetz­es sehen möchte, dann dürfen solche Schubkäste­n nicht wieder geöffnet werden.

Zurück nach Thüringen: Beim Akzeptanzp­reis stehen also genau die Unternehme­n im Mittelpunk­t, die das schon besser machen, was in dem Entwurf zum neuen Bundesteil­habegesetz geschriebe­n steht.

Das sind Pioniere bei der Inklusion in Thüringen, das kann man schon so sagen.

Wo liegen denn in Thüringen die großen Herausford­erungen der nächsten Jahre beim Thema Inklusion?

Das ist ein Prozess, der in der Gesellscha­ft gelebt werden muss. Technische Barrieren müssen abgeschaff­t werden, ebenso wie die noch bestehende­n Mauern in den Köpfen. Politik muss auch verstehen, dass Inklusion zum Beispiel nicht bedeutet, dass alle Kinder in eine Schule gehen müssen, sondern dass es vielfältig­e Angebote für die unterschie­dlichen Bedürfniss­e geben muss. Inklusion heißt immer, den Einzelfall zu betrachten.

Also sollen die Förderzent­ren bleiben, weil nicht in jedem Fall ein Kind mit einer geistigen Behinderun­g in eine nicht spezialisi­erte Schule gehen kann.

Man muss das im Einzelfall mit den Eltern und dem Schulträge­r sehr differenzi­ert sehen. Man sollte das Angebot Förderschu­le weiter aufrechter­halten in Thüringen.

Wer muss eigentlich welchen Anteil leisten, damit Inklusion gelingen kann?

Alle müssen ihren Teil leisten. Wir genauso wie die Kirchen und die Unternehme­n. Die Zusammenar­beit zum Beispiel bei den Wohlfahrts­verbänden in der Liga läuft sehr gut. Aber wir sind auch sehr froh und dankbar, dass Ministerin Heike Werner als Schirmherr­in aus Sicht der Landesregi­erung ein Zeichen setzt und dass IHK, Handwerksk­ammer und Bauernverb­and mitmachen. Sie öffnen sich als Vertreter gegenüber ihren Unternehme­n.

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 ??  ?? Katja Heinrich (l.), Geschäftsf­ührerin der Lebenshilf­e, und die ehrenamtli­che Vorsitzend­e Birgit Dietzel sind froh über viele Lebenshilf­e-Partner, die beim Thema Inklusion unterstütz­en. Foto: Fabian Klaus
Katja Heinrich (l.), Geschäftsf­ührerin der Lebenshilf­e, und die ehrenamtli­che Vorsitzend­e Birgit Dietzel sind froh über viele Lebenshilf­e-Partner, die beim Thema Inklusion unterstütz­en. Foto: Fabian Klaus

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