Thüringische Landeszeitung (Jena)
Inklusion: Auszeichnung für Firmen
LebenshilfeVorsitzende Birgit Dietzel: „Alle müssen ihren Anteil daran leisten“
JENA. Zum vierten Mal wird in Jena heute der Akzeptanz-Preis verliehen. Neun Thüringer Firmen, die sich im Bereich Inklusion besondere Verdienst erworben haben, sind nominiert.
Gemeinsam mit Thüringens Sozialministerin Heike Werner (Linke) – sie ist Schirmherrin der Veranstaltung – nimmt Lebenshilfe-Vorsitzende Birgit Dietzel die Auszeichnung vor.
Dietzel bezeichnete die Unternehmer, die für den Preis nominiert sind, im TLZ-Gespräch als „Pioniere und Vorreiter“. Vor allem die Partnerschaften mit den Industrie- und Handelskammern, der Handwerkskammer und dem Thüringer Bauernverband hob Dietzel loben hervor.
Mit Blick auf das Bundesteilhabegesetz, das derzeit erarbeitet wird, erklärte die Lebenshilfe-Vorsitzende, dass es bei der Ausgestaltung einzelner Punkte noch Nachbesserungsbedarf gebe. Vor allem Menschen mit einer geistigen Behinderung oder mit mehrfacher Behinderung würden nicht ausreichend berücksichtigt. Dort komme es oft darauf an, auf den Einzelfall zu schauen, sagte sie im Interview.
JENA. Das Bundesteilhabegesetz treibt Birgit Dietzel derzeit um. Nicht aus politischen Gründen, sondern weil die ehrenamtliche Vorsitzende der Lebenshilfe dort viele Bereiche noch als nicht ausreichend geregelt empfindet. Der Thüringer Landesverband der Lebenshilfe werde dazu seine Stimme erheben, kündigt die Vorsitzende an. Heute kann sie aber zunächst auf einen freudigen Anlass blicken: Gemeinsam mit Thüringens Sozialministerin Heike Werner (Linke) verleiht sie den Akzeptanz-Preis an im Bereich der Inklusion engagierte Thüringer Unternehmen.
Sie verleihen heute gemeinsam mit Sozialministerin Heike Werner zum vierten Mal den AkzeptanzPreis an Unternehmen, die beim Thema Inklusion in Thüringen Vorreiter sind. Wird Inklusion überall gleich gut vorangebracht in den Firmen?
Wir setzen eine gute Tradition fort, dass Vertreter der Thüringer Landesregierung die Schirmherrschaft für unseren Unternehmenspreis „Akzeptanz“übernehmen und freuen uns, dass die Sozialministerin in diesem Jahr dabei ist. Wir haben über die Jahre hinweg eine gute Entwicklung erlebt, die auch etwas mit der positiven Entwicklung am Arbeitsmarkt zu tun hat. Als Lebenshilfe arbeiten wir schon seit 25 Jahren in Thüringen mit Unternehmen gut zusammen. Durch die UN-Behindertenrechtskonvention hat diese Zusammenarbeit einen deutlichen Aufschwung erlebt.
Welche Folgen hatte das?
Eine Folge ist zum Beispiel der bereits angesprochene Akzeptanz-Preis. Wir haben uns als Lebenshilfe Partner in der Thüringer Handwerkskammer, bei den Thüringer Industrie- und Handelskammern und seit vorigem Jahr auch beim Thüringer Bauernverband gesucht. Wir wollen mit ihnen gemeinsam aufmerksam machen auf tolle Projekte und engagierte Unternehmen. Denn Inklusion ist ein immerwährender Prozess.
Wird dieser irgendwann einmal beendet sein?
Nein. Wir setzen uns als Lebenshilfe ein für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung. Inklusion, das ist uns wichtig, kann nicht verordnet werden, sie muss wachsen. Sie muss von der Frühförderung über den Kindergarten bis in die Unternehmen hinein gelebt werden. Denn klar ist auch: Menschen mit Behinderung können der Gesellschaft viel geben.
Beschreiben Sie das bitte näher.
Sie können zum Beispiel sehr deutlich zeigen, dass sie eigene Potenziale und Leistungsfähigkeit haben und dass man mit einem Handicap ein voll integriertes Mitglied beispielsweise eines Teams im Unternehmen sein kann. Wir sollten dabei auch nie vergessen, dass jeder von uns jeden Tag auch mit einem Handicap konfrontiert werden kann.
Ist diese Botschaft in der Gesellschaft präsent?
Nicht immer. In unserer Leistungsgesellschaft meint man stets, dass es morgen so weitergeht, wie es heute endet. Das menschliche Leben ist vielfältig und kostbar, jeder trägt seinen Teil dazu bei. Auch behinderte Menschen, die sich einbringen wollen und sehr empathische und liebenswerte Menschen sind, die Dinge zum Ausdruck bringen, bei denen wir uns manchmal zügeln. Das bereichert das Zusammenleben enorm.
Wie trägt die Lebenshilfe in Thüringen dazu bei, dass diese Botschaft in der Gesellschaft ankommt?
Wir machen immer wieder deutlich, dass Menschen mit Behinderung ein wertvoller Teil unserer Gesellschaft sind und versuchen als Lebenshilfe, Interessenvertreter für diese Menschen zu sein, einerseits. Auf der anderen Seite geben wir Hilfe und machen Angebote in insgesamt 37 Mitgliedsorganisationen mit mehr als 7100 Menschen in ganz Thüringen. Ganz wichtig dabei ist, dass die Eltern, die Angehörigen von Menschen mit Behinderung bei uns mitarbeiten und mit in den Vorständen sitzen. Denn die Lebenshilfe ist einmal von Eltern gegründet worden, das sind unsere Wurzeln. Wenn Sie Interessenvertreter sind, dann erheben Sie auch die Stimme gegenüber den politischen Vertretern. Wo müssen Sie das zurzeit besonders deutlich machen? Bei der Diskussion um das Bundesteilhabegesetz. Das treibt uns derzeit besonders um. Gemeinsam mit der Parität haben wir dazu in den letzten Monaten das Gespräch mit den Thüringer Bundestagsabgeordneten gesucht.
Was beschäftigt Sie am meisten dabei?
Wir merken jetzt, dass wir die Abgeordneten sensibilisiert haben dafür, sich anzuschauen, was ihre Kollegen im Sozialausschuss erarbeiten und was die Bundesregierung an dem Gesetz dann ändern will. Das ist sehr umfangreich mit 150 Seiten und noch mal 600 Seiten Erläuterung dazu. Es ist nicht einfach, das durchzuarbeiten, wenn man im sozialen Bereich kein Experte ist. Was bewegt Sie beim Bundesteilhabegesetz besonders? Zunächst muss man sagen, dass der Ansatzpunkt richtig ist, zu sagen, dass Menschen mit Behinderung an der Gesellschaft teilhaben und nicht als soziales Anhängsel betrachtet werden. Auf die einzelnen Ausgestaltungen blicken wir allerdings an manchen Punkten kritisch.
Warum?
Es reicht nicht aus, zu sagen, man hat bei der Einschränkung in fünf Lebensbereichen, bisher sind es drei, einen Anspruch auf Teilhabe. Auch bei der Finanzierung des ambulanten Wohnens sehen wir Nachbesserungsbedarf. Es ist wichtig, dass Menschen mit Behinderung die unterschiedlichsten Wohnformen nutzen können, so, wie jeder junge Mensch, der daheim auszieht. Der ambulanten Hilfe wird hier nicht der Stellenwert gegeben, den sie bräuchte. Das halten wir für kritisch und deshalb erheben wir auch dagegen die Stimme. Das haben wir den Bundestagsabgeordneten mitgeteilt. Wir beteiligen uns deshalb auch an der Bundestagspetition.
Kann ein Mensch mit geistiger Behinderung immer und überall teilhaben oder muss es aus Ihrer Sicht da Einschränkungen geben?
Grundsätzlich muss es keine Einschränkungen geben. Es gibt Menschen mit Behinderung, die müssen betreut werden, und dann wieder Menschen, die ein leichteres Handicap haben. Man muss auf die Einzelfälle schauen. Wir fühlen uns verpflichtet, auf solche Feinheiten im Gesetz aufmerksam zu machen. Deshalb haben wir auch mit den Thüringer Abgeordneten, die im Bundestag sitzen, das Gespräch gesucht, um genau darauf aufmerksam zu machen.
Wird Ihnen beim Thema geistige Behinderung zu sehr verallgemeinert?
Es wird unter dem großen Begriff Behinderung gesehen. Geistige Behinderung ist aber noch einmal eine andere Form, auf die man aufmerksam machen muss. Oft wird mit Behinderung keine geistige, sondern eine körperliche Einschränkung beschrieben. Das Bundesteilhabegesetz muss die Bedürfnisse von Menschen mit geistiger Behinderung noch stärker berücksichtigen.
Also die klare Aussage: Keine Verallgemeinerung von Be hinderung im Teilhabegesetz, sondern die Betrachtung der Einzelfälle.
Richtig. Es muss differenziert werden und ein besonderes Augenmerk auch Menschen mit geistiger Behinderung zukommen. Das sind die Menschen, die wir vertreten. Insbesondere kommen uns Menschen mit schweren Behinderungen zu kurz. In dem neuen Bundesteilhabegesetz werden Menschen mit schwerer Behinderung nach wie vor in einem Förderbereich betreut und haben keinen Anspruch auf Leistungen der beruflichen Bildung, weil sie nicht das sogenannte „Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeit“verbringen. So steht es im Gesetzentwurf und das ist nicht mit Inklusion vereinbar. Wenn ich das Wort Inklusion im Kontext des Bundesteilhabegesetzes sehen möchte, dann dürfen solche Schubkästen nicht wieder geöffnet werden.
Zurück nach Thüringen: Beim Akzeptanzpreis stehen also genau die Unternehmen im Mittelpunkt, die das schon besser machen, was in dem Entwurf zum neuen Bundesteilhabegesetz geschrieben steht.
Das sind Pioniere bei der Inklusion in Thüringen, das kann man schon so sagen.
Wo liegen denn in Thüringen die großen Herausforderungen der nächsten Jahre beim Thema Inklusion?
Das ist ein Prozess, der in der Gesellschaft gelebt werden muss. Technische Barrieren müssen abgeschafft werden, ebenso wie die noch bestehenden Mauern in den Köpfen. Politik muss auch verstehen, dass Inklusion zum Beispiel nicht bedeutet, dass alle Kinder in eine Schule gehen müssen, sondern dass es vielfältige Angebote für die unterschiedlichen Bedürfnisse geben muss. Inklusion heißt immer, den Einzelfall zu betrachten.
Also sollen die Förderzentren bleiben, weil nicht in jedem Fall ein Kind mit einer geistigen Behinderung in eine nicht spezialisierte Schule gehen kann.
Man muss das im Einzelfall mit den Eltern und dem Schulträger sehr differenziert sehen. Man sollte das Angebot Förderschule weiter aufrechterhalten in Thüringen.
Wer muss eigentlich welchen Anteil leisten, damit Inklusion gelingen kann?
Alle müssen ihren Teil leisten. Wir genauso wie die Kirchen und die Unternehmen. Die Zusammenarbeit zum Beispiel bei den Wohlfahrtsverbänden in der Liga läuft sehr gut. Aber wir sind auch sehr froh und dankbar, dass Ministerin Heike Werner als Schirmherrin aus Sicht der Landesregierung ein Zeichen setzt und dass IHK, Handwerkskammer und Bauernverband mitmachen. Sie öffnen sich als Vertreter gegenüber ihren Unternehmen.