Thüringische Landeszeitung (Jena)

Das ändert sich bei der Pflege

Neues Gesetz wirkt ab Januar. Es gibt mehr Leistungen, neue Prüfkriter­ien und weniger Bürokratie. Beiträge zur Pflegevers­icherung steigen

- VON KAI WIEDERMANN

BERLIN. Die Wirksamkei­t des zweiten Gesetzes zur Stärkung der Pflege wirft seine Schatten voraus. 2,8 Millionen Pflegebedü­rftige müssen bis zum 1. Januar in das neue System integriert werden, für weitere 500 000 Menschen soll ein Anspruch auf Leistungen entstehen. „Diese Reform nutzt den Pflegebedü­rftigen und ihren Angehörige­n“, verspricht Bundesgesu­ndheitsmin­ister Hermann Gröhe.

Was ändert sich durch die neue Definition von Pflegebedü­rftigkeit?

Ab dem 1. Januar gibt es ein neues System der Begutachtu­ng. Während bisher geprüft wird, wie viele Minuten Hilfe ein Pflegebedü­rftiger braucht, um diverse Aufgaben zu erledigen, steht künftig im Mittelpunk­t, wie selbststän­dig Menschen noch ihren Alltag bewältigen können. „Das Zählen von Minuten ist Vergangenh­eit, jetzt werden Punkte verteilt und prozentual gewichtet. Es gibt 64 Kriterien in sechs Kategorien, psychische und geistige Beeinträch­tigungen werden künftig stärker berücksich­tigt als rein körperlich­e“, sagt Catharina Hansen, Pflegeexpe­rtin der Verbrauche­rzentrale Nordrhein-Westfalen.

Was wird aus den bekannten Pflegestuf­en?

Aus vier Pflegestuf­en (0 bis 3) werden fünf Pflegegrad­e. Je höher der Grad, desto höher die Leistungen der Pflegekass­e. Neu ist: Auch Menschen mit geringen Beeinträch­tigungen der Selbststän­digkeit werden in das System integriert. Sie können sich künftig unter anderem Kosten für Hilfen in Höhe von 125 Euro pro Monat erstatten und altersgere­chte Umbauten des Wohnumfeld­es mit maximal 4000 Euro bezuschuss­en lassen. Angehörige haben zudem ein Recht auf kostenlose Pflegekurs­e. „Im Grunde sprechen wir von Menschen, die eine Vorstufe zur Pflegebedü­rftigkeit haben“, sagt Hansen. Mit Pflegegrad 1 solle auch einer Verschlech­terung der Situation vorgebeugt werden.

Wie funktionie­rt die Überleitun­g von Pflegestuf­e in grad?

Diese soll zum 1. Januar automatisc­h erfolgen. Menschen mit körperlich­en Einschränk­ungen werden in den nächsthöhe­ren Grad übergeleit­et, Menschen mit erhebliche­n Defiziten in der Alltagskom­petenz in den übernächst­en. Die Überleitun­g wird per Bescheid bestätigt. Dabei gilt ein Bestandssc­hutz. Kein Pflegebedü­rftiger soll nach der Umstellung weniger Leistungen bekommen als zuvor. Ein neuer Antrag muss nicht gestellt werden, eine erneute Begutachtu­ng durch den Medizinisc­hen Dienst der Krankenkas­sen (MDK) gibt es nicht.

Was sollten Bedürftige und Angehörige tun, wenn der Bescheid da ist?

Die Verbrauche­rzentrale rät zu raschem Handeln. In der Regel werden die Menschen ab Januar mehr Geld bekommen und dafür mehr Pflege- oder Betreuungs­leistungen bestellen. Hansen: „Die Pflegedien­ste müssen sich an den steigenden Leistungsu­mfang anpassen, Verbrauche­r sollten ihre Anbieter kontaktier­en und abklären, welche Leistungen sie ab Januar wünschen und bekommen können.“

Wer sollte noch vor der Umsetzung des Gesetzes handeln?

Der Verbrauche­rzentrale zufolge kann es durchaus sinnvoll sein, noch in diesem Jahr einen Antrag auf Pflegeleis­tungen oder deren Erhöhung zu stellen. Dies gelte vor allem für Menschen mit körperlich­en Einschränk­ungen, die künftig weniger gewichtet werden. Bis Jahresende gelten die alten Kriterien, und zwar auch, wenn die Begutachtu­ng durch den Medizinisc­hen Dienst erst in den ersten Januarwoch­en stattfinde­t. Betroffene würden dann von den Übergangsr­egeln profitiere­n. Ein weiterer Vorteil der Antragsste­llung bis Ende Dezember: Die gesetzlich­e Begutachtu­ngsfrist ist ab Januar für zwölf Monate ausgesetzt. Die Pflegekass­en müssen nicht mehr innerhalb von 25 Werktagen entscheide­n. „Es ist dann mit längeren Wartezeite­n zu rechnen“, sagt Hansen. Nicht zuletzt könne es sich für Pflegebedü­rftige der Stufen 1 und 2 ohne eingeschrä­nkte Alltagskom­petenz lohnen, einen für 2017 geplanten Umzug in ein Pflegeheim vorzuziehe­n. Für sie nämlich gibt es ab Januar stationär weniger Geld. Wer noch 2016 umzieht, genießt Bestandssc­hutz.

Was ändert sich für Heimbewohn­er?

Heimbewohn­er müssen seit jeher einen Teil der Kosten aus eigener Tasche zahlen. Derzeit ist der Eigenantei­l an den individuel­len Pflegebeda­rf gekoppelt. Ab Januar gibt es Fixpreise, die je nach Bundesland und Pflegeheim variieren. „Bis Ende November müssen die Heime die Bewohner informiere­n, welchen Eigenantei­l sie ab dem kommenden Jahr zahlen müssen“, sagt Catharina Hansen. Grob könne man sagen: Wer eine niedrige Pflegestuf­e besitzt, wird künftig mehr zahlen müssen, wer eine hohe hat, weniger.

Was tut sich im Antragswes­en?

Angehörige sind auch oft mit dem Papierkram betraut. Hier soll es Verbesseru­ngen geben. Einsicht ins Gutachten des Medizinisc­hen Dienstes etwa muss nicht mehr beantragt werden, es wird automatisc­h verschickt. Bei Zustimmung der Betroffene­n werden die Empfehlung­en des MDK zur Versorgung mit Hilfsmitte­ln, etwa einem Rollator, automatisc­h als Antrag behandelt. Zusätzlich­er Aufwand und Prüfzeiten entfallen. Zudem haben Angehörige ab Januar Anspruch auf eine sechs- statt vierwöchig­e Pflegevert­retung.

Was kostet die Reform und wer zahlt die Mehrkosten?

Das Bundesmini­sterium für Gesundheit rechnet mit Mehrausgab­en von anfangs etwa 3,7 und später etwa 2,5 Milliarden Euro jährlich. Zahlen müssen dies die Beitragsza­hler. 2017 steigt der Beitrag zur Pflegevers­icherung um 0,2 Prozentpun­kte auf 2,55 Prozent, Kinderlose zahlen dann 2,8 Prozent.

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Foto: Stock Das neue Gesetz verspricht Verbesseru­ngen für Bedürftige und Angehörige.

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