Thüringische Landeszeitung (Jena)
„Wir sollten jetzt besser zu Hause sein!“
Bernd Lange überlebt in der Nacht zum 9. November 1989 knapp ein Schiffsunglück – und sieht kurz danach im TV die Menschen auf der Mauer tanzen
WEIMAR. Während die einen westwärts fahren, zieht es Bernd Lange nur noch heim. Der Mauerfall wird für ihn immer verbunden bleiben mit der Rettung aus höchster Seenot. Beinahe hätte er bei einem Fährunglück sein Leben verloren in jenem November 1989. Und während er noch unter Schock steht und im Fernsehen seine Landsleute auf der Mauer feiern sieht, wird ihm schlagartig bewusst, wie wichtig ihm die Heimat ist.
Während der Mauerfall Schlagzeilen macht, ist der bekannte Weimarer Schauspieler knapp dem Tod auf der Nordsee entronnen: auf der EnglandFähre „Hamburg“, die ihn und seinen Kollegen, den Musiker und Komponisten Christoph Theusner, der ebenfalls in Weimar lebt, zu neuen Ufern hätte bringen sollen.
Die beiden dürfen im November 1989 endlich gemeinsam auf eine Reise ins Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet (NSW) gehen, um ihr von viel Beifall begleitetes Wolfgang-BorchertProgramm „Gespräch über den Dächern“zu spielen. Vorausgegangen ist diesem Gastspiel, das sie an mehrere schottische Universitäten führen soll, eine zwei Jahre währende Vorbereitungszeit. Lange erinnert sich an „ein qualvolles Hin und Her: Terminfindung, Finanzierung, Visafragen, bürokratische Hürden...“ an seine Gedanken auf der Fahrt nach Hamburg. Sie sind mit dem Auto unterwegs, haben die Instrumente dabei. An Deck wird ihnen am 8. November eine großzügige Kabine zugewiesen. Gegen halb zehn am Abend – „wir müssen auf Höhe Helgoland
„Uns wurde klar, welch riesengroßes Glück wir gehabt hatten. Und das ließ uns fast zusammenbrechen. Wir waren verwirrt, kaputt, traurig und glücklich.“
Bernd Lange, DNT Weimar, über seinen ganz besonderen 9. November 1989
Wer damals ins NSW reisen will, der wird auf seine Zuverlässigkeit eingeschätzt. Zudem hat Lange Verpflichtungen am DNT, eine Spielplan-Änderung stoppt beinahe noch einmal das ganze Vorhaben, doch der Intendant steht schließlich der Reise nicht im Weg.
„Wir hatten ein merkwürdiges Gefühl der Unruhe, unser Land in einer Zeit zu verlassen, in der sich die politische Situation täglich änderte“, erinnert sich Lange gewesen sein“– sind die beiden Männer auf dem Schiff unterwegs, essen etwas, schauen im Tanzsaal vorbei – „langweilig“–, schauen in den Spielsalon, zocken aber nicht, das WestGeld soll ja erst noch in Schottland verdient werden. Betreten gegen 22 Uhr die Bar, bestellen zwei Bier. „Vom Fass?“Lange sagt „Ja“– und sieht im gleichen Moment, wie Dutzende Gläser von der Bar fegen. Christoph Theusner treibt zur Eile an: „Hoch“. Es muss etwas Schlimmes passiert sein. Oben an Deck sind sie unter den ersten Passagieren – und legen Schwimmwesten an. Die Nordic Stream – ein Frachter – hat die Fähre gerammt. Bei Windstärke 9 treibt der Frachter nun längsseits, Rettungsboote werden von den Aufbauten des Frachters aufgeschlitzt. Angst macht sich breit. Lange erinnert sich an Schreie, leichte Schlagseite des Schiffes, Rauchentwicklung, meterhohe Wellen... Der Frachter treibt weg. War’s das? Wenn die Fähre jetzt sinkt, hat keiner eine Überlebenschance...
Lange: „Kurz blitzt der absurde Gedanke auf: Du ersäufst hier und zu Hause bricht vielleicht die DDR zusammen.“Die Sehnsucht, nach „draußen“zu kommen, löst sich auf im Nebel der Angst, wie er es nennt.
Keine Durchsage. Kein Kapitän, der beruhigt. Die Schiffsbesatzung ist gleichermaßen aufgeregt wie die Passagiere. Nach 20 Minuten, schätzt Lange, kommt ein erster Hubschrauber. Nach einer Stunde heißt es endlich: Schiff außer Gefahr. Verletzte werden von den Hubschraubern abtransportiert. Was genau passiert ist, stellt sich erst später heraus: Bei rauer See hatte der Frachter offenbar in voller Fahrt die Fähre gerammt und dabei bohrt sich das Schiff mehr als acht Meter tief in die „Hamburg“, auf der Lange unterwegs ist. Das Leck ist riesig – und reichte von weit oben bis zur Wasserlinie. Wäre es tiefer, wäre das Schiff längst gesunken. Da, wo Lange und Theusner ihr Bier trinken wollten, waren sie nur 20 Meter von der Stelle entfernt, an der sich der Frachter in die Fähre bohrte.
Im Tanzsaal, erfährt er später, hatte es mehrere Tote gegeben. Überliefert ist, so in der Zeitung „Herald of Scotland“, die beinahe unglaubliche Geschichte der Familie King, die sich während der Kollision im Salon befunden hatte. Vom Vater fehlte stundenlang jedes Lebenszeichen. Doch er wurde beim Zusammenstoß nicht ins Wasser gerissen. Wie sich später herausstellte, ist Douglas Kind durch den Aufprall aus dem Salon heraus auf das Deck der Nordic Stream geschleudert worden. Er überlebte den Unfall schwer verletzt.
Zurück zu Lange und Theusner, die keinen äußeren Schaden nehmen beim Zusammenstoß. Noch sind sie nicht an Land: Sie müssen in dieser Nacht auf dem havarierten Schiff bleiben – und erleben eine von Angst geprägte Fahrt nach Bremerhaven. Erst bei Tageslicht wird das gesamte Ausmaß der Zerstörung am Schiff sichtbar. „Uns wird klar, welches riesengroße Glück wir gehabt haben – und das lässt uns fast zusammenbrechen“, sagt Lange. Die beiden Künstler werden nach Bremen verfrachtet. Noch ist ihr Auto an Bord. Sollen sie sich erneut auf anderem Weg nach Schottland aufmachen?
Lange hat in den folgenden Stunden kein gutes Gefühl – er will nur noch nach Hause. Mittlerweile haben sie im Hotel gesehen, was im Fernsehen läuft. Es ist wie ein Programm aus einer anderen Welt. Die Mauer: offen. Lange ist „bis ins Tiefste erschüttert“von den Ereignissen. „Verwirrt, kaputt, traurig und glücklich brechen wir schließlich die Reise ab. Wir sollten jetzt besser zu Hause sein!“Das ist der Gedanke, der Lange beherrscht.
Das Borchert-Programm wird nie in Schottland gespielt.