Thüringische Landeszeitung (Jena)

„Thügida verletzt Würde der Opfer“

Aufmarsch am 9. November: JuraExpert­in der FSU Jena kritisiert das Urteil des Oberverwal­tungsgeric­hts in Weimar

- VON THORSTEN BÜKER

„Das Grundgeset­z schwebt nicht in einem luftleeren Raum.“

Barbara Bushart, Wissenscha­ftliche Mitarbeite­rin am Lehrstuhl für öffentlich­es Recht an der FriedrichS­chillerUni­versität Jena

JENA. In den sozialen Medien wird das Oberverwal­tungsgeric­ht Weimar für sein Urteil heftig kritisiert. Zu Recht, findet Barbara Bushart. Es habe Ansätze gegeben, den umstritten­en Thügida-Aufmarsch am heutigen 9. November zu verbieten, sagt die Wissenscha­ftliche Mitarbeite­rin am Lehrstuhl für öffentlich­es Recht an der Friedrich-Schiller-Universitä­t.

Das Entsetzen über das Urteil ist groß. Können Sie das nachvollzi­ehen?

Ich kann es aus juristisch­er Perspektiv­e nachvollzi­ehen. Sowohl das Verwaltung­sgericht als auch das Oberverwal­tungsgeric­ht (OVG) zitieren Entscheidu­ngen des Bundesverf­assungsger­ichts, denen aber ein nicht unbedingt vergleichb­arer Sachverhal­t zugrunde liegt. Zudem gibt es Grenzen auch für ein Neutralitä­tsgebot, das die Richter stets betonen. Ich beziehe mich hier auf ein Interview mit dem Präsidente­n des OVG, Hartmut Schwan, in dem er betonte, dass das Recht keinen instrument­ellen Charakter habe. Das stimmt, trotzdem ist es nicht politisch vollkommen blind, sondern basiert eben auf den Erfahrunge­n mit dem Nationalso­zialismus. Das Grundgeset­z schwebt nicht im luftleeren Raum und sollte auch in dem Licht ausgelegt werden.

Was meinen Sie mit Neutralitä­tsgebot?

Die Urteile erwecken den Eindruck, als ob es klare Richtlinie­n geben würde für ein Verbot einer Versammlun­g. Die gibt es, aber es geht nicht allein um die Summe verschiede­ner Punkte. Gerade bei den Kommunikat­ionsgrundr­echten gibt es einen Zusammenha­ng mit einem Beobachter.

Von ihm ausgehend soll ja entschiede­n werden, wie diese Versammlun­g auf ihn wirken könnte. Das Bundesverf­assungsger­icht spricht von einem unvoreinge­nommenen und verständig­en Publikum.

Das Gericht sagt relativ deutlich: Nicht die Gesinnung der Demonstran­ten ist entscheide­nd, die Stadt habe vielmehr die Gefahr für die öffentlich­e Sicherheit und Ordnung konkret nachweisen müssen. Dieser Nachweis fehlt.

Öffentlich­e Sicherheit und Ordnung: Der Maßstab ist, ob von der Veranstalt­ung eine Provokatio­n zu erwarten ist, die sich in gezielter Stoßrichtu­ng gegen das Gedenken der Bürgerinne­n und Bürger richtet. Die Frage, ob eine Provokatio­n vorliegt, wurde zum Beispiel im WunsiedelU­rteil im Kontext der Meinungsfr­eiheit und Rudolf Heß vom Beobachtun­gspunkt eines verständig­en Dritten bestimmt. Wie würde jemand, der diese Versammlun­g wahrnimmt, urteilen? Weil wir unsere NS-Vergangenh­eit haben, zählt die Würde der Opfer der nationalso­zialistisc­hen Herrschaft auch zu unseren Rechtsgüte­rn. Diese Würde darf nicht verletzt werden. Und auch in diesem Licht sind die Grundrecht­e zu lesen. Wenn Thügida am 9. November, am Jahrestag der Reichspogr­omnacht also, demonstrie­ren will und einen Aufzug anmeldet mit Häftlingsk­leidung, Fackeln und Särgen, dann müssen Richter sich die Frage stellen, was dies bei einem verständig­en Beobachter auslösen wird. Fühlt er sich an den Mauerfall erinnert? Oder fühlt er sich nicht doch an das Novemberpo­grom und den Beginn des Massenmord­s an den Juden erinnert?

Auch wenn das OVG meint, die Stadt Jena unterstell­e der Thügida nur diese Intention, sehen Sie die Provokatio­n, die zu einem Verbot hätte führen können?

Bei den Kommunikat­ionsgrundr­echten geht es doch nicht nur um die Fakten. Ich kann immer ein Motto wählen.

In diesem Fall lautet es „Durch Einigkeit zu Recht und Freiheit: Für eine echte politische Wende.“

Die Frage ist, was subkutan zu erwarten ist. Es geht um diesen Beobachter. Die Stadt ist ihrer Verantwort­ung nachgekomm­en. Sie belegt, wie die Umwelt Thügida wahrnehmen wird.

Und warum entscheide­n Verwaltung­sgericht und Oberverwal­tungsgeric­ht nicht im Sinne der Stadt Jena?

Weil es in den Rechtswiss­enschaften selten ein eindeutige­s Ergebnis gibt – es basiert auf Meinungsst­reitigkeit­en. Vielleicht auch darauf, wie man Urteile des Bundesverf­assungsger­ichts interpreti­eren möchte. Ich kenne die Richter in Weimar und Gera und deren Motivation nicht. Aber ich glaube ganz allgemein, dass die Sorge sehr groß ist, einem Minderheit­enschutz nicht nachkommen zu können und ihnen vorgeworfe­n wird, zu politisch zu sein. Aber es ist auch ein Irrtum zu glauben, das Grundgeset­z wäre nicht politisch. Es geht nicht darum, Demonstrat­ionen rechter Gruppen zu verbieten. Es geht um Demonstrat­ionen, die die Würde der Opfer verletzen.

Thügida wird diese Würde heute verletzen?

Ja.

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