Thüringische Landeszeitung (Jena)
Die Qualität im Kindergarten
Podiumsdiskussion mit Ministerin und hiesigen Landtagsabgeordneten über Beitragsfreiheit und Personalnöte
JENA. Thüringens Bildungsministerin Birgit Klaubert (Linke) war zum Schluss hin spürbar gereizt. Immer wieder blätterte sie am Podiumstisch fahrig in ihren Papieren, statt Blickkontakt mit dem Publikum zu wahren. Während der Diskussionsrunde im rappelvollen Rathaus zum Thema „Beitragsfreies Kita-Jahr vs. Qualität in Kitas“bereiteten ihr Fragen nach Betreuungsschlüssel und „mehr Personal“– also nach Qualität – Unbehagen. Sie könne nicht aus dem Nähkästchen plaudern, zumal für das fällige neue Thüringer Kindertagesstättengesetz noch die „Ressort-Abstimmung“laufe und sich sogar „manches andere Ministerium nicht an Termine gehalten“habe. Klaubert: „Ich kann es nicht beantworten.“
Sybille Perlick,Teamleiterin des Ressorts „Kommunale Kitas“der Stadtverwaltung, hatte zuvor den Jenaer Rahmen skizziert: derzeit 5720 Mädchen und Jungen in den 67 Kindergärten der 26 Träger-Einrichtungen; in der Altersgruppe „0 bis 1“eine Nutzungsquote von 5 Prozent; bei „1 bis 2“derzeit 65 Prozent; bei „2 bis 3“derzeit 85 Prozent, während bei „3 bis 6,5“schon länger 100 Prozent zu Buche stehen. Das politisch wohl eingetütete beitragsfreie Jahr sei „familienpolitisch der richtige Ansatz“, sagte Sybille Perlick.
Allerdings liege Jena bei der Personalausstattung zum Teil „weit unter den wissenschaftlichen Standards“. Beispielsweise seien in den Finanzierungen 10 Prozent Fehlzeiten einkalkuliert, in Wahrheit aber 20 Prozent vonnöten. Bei der veranschlagten Vor- und Nachbereitungszeit müsse das Kalkül ebenfalls der Wirklichkeit angepasst werden: Bitte 15 statt 10 Prozent Wochenarbeitszeit!
Oder die Bertelsmann-Studie, die für die Altersgruppe „3 bis 6,5“einen Betreuungsschlüssel von 1:7,5 empfiehlt! In der Jenaer Realität reiche der Schlüssel „bis 1:20“, sagte Sybille Perlick. Und so hat sie denn auch beispielhaft durchgerechnet: In Jena würden bei Einführung des beitragslosen letzten Kita-Jahres – des Vorschul-Jahres also – Eltern insgesamt von 1,4 Millionen Euro Entgelt befreit, womit sich 30 Vollzeit-Pädagogenstellen pro Jahr bezahlen ließen. Nur: Aktuell würden in Jena 194 Stellen fehlen, nach Maßstäben der Bertelsmann-Studie wären es sogar 331.
Anke Mamat, Leiterin der Kita „Billy“, betonte, dass in ihrem Hause selbst bei 35 Prozent Ausfallzeit das Lächeln gewahrt werde. – „Wir machen niemals die Tür zu, schicken niemals ein Kind weg“, sagte sie. „Und das schlaucht.“Andererseits: „Mit fünf Jahren Berufsausbildung wollen wir mehr als betreuen, doch brauchen wir dafür auch mehr Zeit.“
Dem pflichtete Stadt-Elternsprecher Tim Wagner bei: „Das Lächeln bekommen wir. In der Tat!“Doch bleibe grundsätzlich zu fragen: Wenn ganz richtig beschworen werde, dass die ersten sechs Jahre des Kindes die wichtigsten seien, weshalb werde dann für diese Zeit das wenigste Geld bereitgestellt? Wagner lenkte den Blick auf die oft überstrapazierten Betreuungsschlüssel und den nötigen MillionenAufwand für angemessene Personalstellen-Angleichung: „Das ist eine Frage von Gewichtung und nicht von ‚Entweder – oder‘.“
Sie wisse, dass nicht allen Ansprüchen entsprochen werde, sagte die Ministerin, die die Finanzierung des beitragsfreien Jahres umriss: 19 Millionen, die bislang für das von der früheren CDU-Regierung aufgelegte und nun von Rot-Rot-Grün kassierte „Landeserziehungsgeld“benötigt wurden, dazu 10 Millionen, zumal die Kinderzahl sich erhöht habe. Aber das Mehr an Qualität? In der Personalfrage sei „Solidarität unterschiedlicher Ministerien“vonnöten. „Ich schaffe das nicht in meinem Haus.“ Was die Landespolitiker dazu sagten: CDU-Fraktionär Christian Tischner zitierte zum Beispiel aus dem rot-rot-grünen Koalitionsvertrag, worin das beitragsfreie Jahr – „und die Sicherung der Qualität“verankert seien. Torsten Wolf (Linke) merkte an, dass das Land in der Frage der Qualität „nicht alleiniger Kostenträger“sei. „Jena kriegt nicht ganz 40 Prozent finanziert. Wenn wir etwas beschließen, beschließen wir auch etwas über den Stadthaushalt.“Und Olaf Müller von den Bündnisgrünen: Ja, seine Partei habe die 29-Millionen-Finanzierung des beitragsfreien Jahres mitgetragen. „Aber da muss noch was für die Qualität rumkommen!“, sagte Müller, der am Abend mehrfach die Bildungsministerin namentlich mit „Taubert“erwähnte – so wie Finanzministerin Heike Taubert (SPD). Müller sprach die Verbesserung des Betreuungsschlüssels der Drei- bis Sechsjährigen und dafür erforderliche 30 Millionen Euro an. „Dafür bin ich bereit zu kämpfen“; dies könne der „nächste Schritt“nach dem beitragsfreien Jahr sein.
Auch Christoph Matschie (SPD), der Klaubert-Vorgänger, formulierte: „Zur Qualitätsentwicklung muss ein Vorschlag auf den Tisch“, während die zunächst einjährige Beitragsfreiheit unstrittig sei. In 10, in 15 Jahren möge die vollständige Beitragsfreiheit erreicht sein. „Familien brauchen ein Signal: Eure Erziehungsarbeit wird wertgeschätzt.“
Folgerichtig: Die recht offenen Äußerungen zur „Qualität“erzeugten im Jenaer Publikum keine helle Begeisterung. Anke Protze, Leiterin der Kita „Schwabenhaus“, gewann den „Eindruck, dass sich die Politik hinter dem beitragsfreien KitaJahr versteckt“. In der Praxis würden täglich neun Stunden Öffnungszeit finanziert, aber viel mehr Stunden benötigt. Ihr Tun sei stark vom Gedanken getragen, wie ihr Team bei solcher Mehrbelastung „gesund durch die Arbeitsjahre“komme, sagte Anke Protze. In ihren 20 Schwabenhaus-Jahren habe sie nur eine Kollegin erlebt, „die mit Anstand in die Rente“gelangte. „Irgendwann werden wir aufstehen, und wir machen nur noch neun Stunden auf.“Auch bei der Awo Jena – Weimar, die viele Kindergärten trägt, ist die Situation keine andere. Es gebe „von Tag zu Tag mehr überlastete Pädagogen“, sagte Vorstands-Chef Frank Albrecht. „Es fehlt der Knall in die Zukunft.“
Bürgermeister Frank Schenker (CDU) merkte an, der Koalitionsvertrag bilde doch nicht die gesellschaftliche Wirklichkeit ab. Eine Neujustierung sei nötig, „ansonsten sucht sich die Gesellschaft Wege und Kanäle, die wir nicht wollen“. Deshalb also Schenkers Frage an die Landespolitiker zum kommenden Landtagswahlkampf: Werde es da in den Programmen heißen „beitragsfreies Jahr und vielleicht Qualität“?, so formulierte der Bürgermeister. „Oder sagen Sie: Qualität?“