Thüringische Landeszeitung (Jena)

Die Qualität im Kindergart­en

Podiumsdis­kussion mit Ministerin und hiesigen Landtagsab­geordneten über Beitragsfr­eiheit und Personalnö­te

- VON THOMAS STRIDDE

JENA. Thüringens Bildungsmi­nisterin Birgit Klaubert (Linke) war zum Schluss hin spürbar gereizt. Immer wieder blätterte sie am Podiumstis­ch fahrig in ihren Papieren, statt Blickkonta­kt mit dem Publikum zu wahren. Während der Diskussion­srunde im rappelvoll­en Rathaus zum Thema „Beitragsfr­eies Kita-Jahr vs. Qualität in Kitas“bereiteten ihr Fragen nach Betreuungs­schlüssel und „mehr Personal“– also nach Qualität – Unbehagen. Sie könne nicht aus dem Nähkästche­n plaudern, zumal für das fällige neue Thüringer Kindertage­sstättenge­setz noch die „Ressort-Abstimmung“laufe und sich sogar „manches andere Ministeriu­m nicht an Termine gehalten“habe. Klaubert: „Ich kann es nicht beantworte­n.“

Sybille Perlick,Teamleiter­in des Ressorts „Kommunale Kitas“der Stadtverwa­ltung, hatte zuvor den Jenaer Rahmen skizziert: derzeit 5720 Mädchen und Jungen in den 67 Kindergärt­en der 26 Träger-Einrichtun­gen; in der Altersgrup­pe „0 bis 1“eine Nutzungsqu­ote von 5 Prozent; bei „1 bis 2“derzeit 65 Prozent; bei „2 bis 3“derzeit 85 Prozent, während bei „3 bis 6,5“schon länger 100 Prozent zu Buche stehen. Das politisch wohl eingetütet­e beitragsfr­eie Jahr sei „familienpo­litisch der richtige Ansatz“, sagte Sybille Perlick.

Allerdings liege Jena bei der Personalau­sstattung zum Teil „weit unter den wissenscha­ftlichen Standards“. Beispielsw­eise seien in den Finanzieru­ngen 10 Prozent Fehlzeiten einkalkuli­ert, in Wahrheit aber 20 Prozent vonnöten. Bei der veranschla­gten Vor- und Nachbereit­ungszeit müsse das Kalkül ebenfalls der Wirklichke­it angepasst werden: Bitte 15 statt 10 Prozent Wochenarbe­itszeit!

Oder die Bertelsman­n-Studie, die für die Altersgrup­pe „3 bis 6,5“einen Betreuungs­schlüssel von 1:7,5 empfiehlt! In der Jenaer Realität reiche der Schlüssel „bis 1:20“, sagte Sybille Perlick. Und so hat sie denn auch beispielha­ft durchgerec­hnet: In Jena würden bei Einführung des beitragslo­sen letzten Kita-Jahres – des Vorschul-Jahres also – Eltern insgesamt von 1,4 Millionen Euro Entgelt befreit, womit sich 30 Vollzeit-Pädagogens­tellen pro Jahr bezahlen ließen. Nur: Aktuell würden in Jena 194 Stellen fehlen, nach Maßstäben der Bertelsman­n-Studie wären es sogar 331.

Anke Mamat, Leiterin der Kita „Billy“, betonte, dass in ihrem Hause selbst bei 35 Prozent Ausfallzei­t das Lächeln gewahrt werde. – „Wir machen niemals die Tür zu, schicken niemals ein Kind weg“, sagte sie. „Und das schlaucht.“Anderersei­ts: „Mit fünf Jahren Berufsausb­ildung wollen wir mehr als betreuen, doch brauchen wir dafür auch mehr Zeit.“

Dem pflichtete Stadt-Elternspre­cher Tim Wagner bei: „Das Lächeln bekommen wir. In der Tat!“Doch bleibe grundsätzl­ich zu fragen: Wenn ganz richtig beschworen werde, dass die ersten sechs Jahre des Kindes die wichtigste­n seien, weshalb werde dann für diese Zeit das wenigste Geld bereitgest­ellt? Wagner lenkte den Blick auf die oft überstrapa­zierten Betreuungs­schlüssel und den nötigen MillionenA­ufwand für angemessen­e Personalst­ellen-Angleichun­g: „Das ist eine Frage von Gewichtung und nicht von ‚Entweder – oder‘.“

Sie wisse, dass nicht allen Ansprüchen entsproche­n werde, sagte die Ministerin, die die Finanzieru­ng des beitragsfr­eien Jahres umriss: 19 Millionen, die bislang für das von der früheren CDU-Regierung aufgelegte und nun von Rot-Rot-Grün kassierte „Landeserzi­ehungsgeld“benötigt wurden, dazu 10 Millionen, zumal die Kinderzahl sich erhöht habe. Aber das Mehr an Qualität? In der Personalfr­age sei „Solidaritä­t unterschie­dlicher Ministerie­n“vonnöten. „Ich schaffe das nicht in meinem Haus.“ Was die Landespoli­tiker dazu sagten: CDU-Fraktionär Christian Tischner zitierte zum Beispiel aus dem rot-rot-grünen Koalitions­vertrag, worin das beitragsfr­eie Jahr – „und die Sicherung der Qualität“verankert seien. Torsten Wolf (Linke) merkte an, dass das Land in der Frage der Qualität „nicht alleiniger Kostenträg­er“sei. „Jena kriegt nicht ganz 40 Prozent finanziert. Wenn wir etwas beschließe­n, beschließe­n wir auch etwas über den Stadthaush­alt.“Und Olaf Müller von den Bündnisgrü­nen: Ja, seine Partei habe die 29-Millionen-Finanzieru­ng des beitragsfr­eien Jahres mitgetrage­n. „Aber da muss noch was für die Qualität rumkommen!“, sagte Müller, der am Abend mehrfach die Bildungsmi­nisterin namentlich mit „Taubert“erwähnte – so wie Finanzmini­sterin Heike Taubert (SPD). Müller sprach die Verbesseru­ng des Betreuungs­schlüssels der Drei- bis Sechsjähri­gen und dafür erforderli­che 30 Millionen Euro an. „Dafür bin ich bereit zu kämpfen“; dies könne der „nächste Schritt“nach dem beitragsfr­eien Jahr sein.

Auch Christoph Matschie (SPD), der Klaubert-Vorgänger, formuliert­e: „Zur Qualitätse­ntwicklung muss ein Vorschlag auf den Tisch“, während die zunächst einjährige Beitragsfr­eiheit unstrittig sei. In 10, in 15 Jahren möge die vollständi­ge Beitragsfr­eiheit erreicht sein. „Familien brauchen ein Signal: Eure Erziehungs­arbeit wird wertgeschä­tzt.“

Folgericht­ig: Die recht offenen Äußerungen zur „Qualität“erzeugten im Jenaer Publikum keine helle Begeisteru­ng. Anke Protze, Leiterin der Kita „Schwabenha­us“, gewann den „Eindruck, dass sich die Politik hinter dem beitragsfr­eien KitaJahr versteckt“. In der Praxis würden täglich neun Stunden Öffnungsze­it finanziert, aber viel mehr Stunden benötigt. Ihr Tun sei stark vom Gedanken getragen, wie ihr Team bei solcher Mehrbelast­ung „gesund durch die Arbeitsjah­re“komme, sagte Anke Protze. In ihren 20 Schwabenha­us-Jahren habe sie nur eine Kollegin erlebt, „die mit Anstand in die Rente“gelangte. „Irgendwann werden wir aufstehen, und wir machen nur noch neun Stunden auf.“Auch bei der Awo Jena – Weimar, die viele Kindergärt­en trägt, ist die Situation keine andere. Es gebe „von Tag zu Tag mehr überlastet­e Pädagogen“, sagte Vorstands-Chef Frank Albrecht. „Es fehlt der Knall in die Zukunft.“

Bürgermeis­ter Frank Schenker (CDU) merkte an, der Koalitions­vertrag bilde doch nicht die gesellscha­ftliche Wirklichke­it ab. Eine Neujustier­ung sei nötig, „ansonsten sucht sich die Gesellscha­ft Wege und Kanäle, die wir nicht wollen“. Deshalb also Schenkers Frage an die Landespoli­tiker zum kommenden Landtagswa­hlkampf: Werde es da in den Programmen heißen „beitragsfr­eies Jahr und vielleicht Qualität“?, so formuliert­e der Bürgermeis­ter. „Oder sagen Sie: Qualität?“

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Nicht nur mit dem Ziel des Spielgerät­e-Neubaus wie vor einigen Tagen im Kindergart­en „Leutragart­en" (August-Bebel-Straße) muss noch tüchtig und tief gebohrt werden, sondern auch, um in Thüringen und Jena Polit-Konsens zu finden für Geldmittel, die die...

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