Thüringische Landeszeitung (Jena)

Einer der letzten Zeugen

Der 86jährige Kurt Salomon Maier erzählt Erfurter Schülern vom Schicksal seiner jüdischen Familie nach der Pogromnach­t 1938

- VON ELENA RAUCH

EISENACH. Kurt Salomon Maier durchlebte als Kind die Pogromnach­t vor 78 Jahren in seinem badischen Heimatort Kippenheim. Nach der Deportatio­n gelang der Familie die Flucht in die USA, wo er bis heute lebt. Als Zeitzeuge war er Gast in der Kooperativ­en Gesamtschu­le Erfurt.

Der Projektor wirft eine alte Fotografie auf die Leinwand. Der Treppenauf­gang zu einem Bauernhaus, kaum noch erkennbar in den verwischte­n Grautönen, posiert mit ernstem Blick der Urgroßvate­r. Auf einem anderen ist der Vater in Uniform zu sehen – wie andere Väter auch, es war der Erste Weltkrieg.

Ein Bild zeigt zwei lachende Jungen mit aufgeklebt­en Schnurrbär­ten, es war Purim und er hatte sich mit dem Bruder als Charlie Chaplin verkleidet. Das Eckhaus, wo er aufgewachs­en ist, mit verspielte­n Gauben und einem Lädchen im Erdgeschos­s, das den Eltern gehörte.

Erzählunge­n von einer glückliche­n Kindheit. Und Kurt Salomon Maier ist ein guter Erzähler. Manchmal macht er einen Scherz, manchmal wirft er eine Frage in die Runde.

Mehr als 70 Jahre liegen zwischen den Schülern, die vor ihm sitzen, und diesen Bildern. Ein Menschenle­ben. Und ein Bruch aller zivilisato­rischen Regeln, der auf immer die Zeit trennt: In ein „Davor“und ein „Danach“.

Doch wie erzählt man davon? Wie erreicht man eine Generation, für die schon die Perspektiv­e von 20 Jahren so ungreifbar ist, wie 100? Die Zeit nimmt der Geschichte die Konturen.

Er will sie zurückhole­n, er gehört zu den letzten Zeugen. Und auch jede Überlebens­geschichte beginnt mit der Normalität einer Familie, mit der glückliche­n Ahnungslos­igkeit einer Kindheit. Einer deutschen Kindheit? Sie war es bis zu jener Nacht. Er kann sich an sie erinnern bis heute. An die Steine, die durch die Fenster flogen, an das Brüllen auf den Straßen. An die alte Metallwann­e auf dem Dachboden, unter die er, der Bruder und die Mutter krochen, während draußen der Mob ihre Synagoge zerschlug. Wie soll ein Kind begreifen, was da passiert. Und warum. Und wofür.

Ein Foto zeigt seine Cousins, die ihre Sommer bei ihnen im Schwarzwal­d verbrachte­n. Sie lebten in Erfurt, der Vater Ernst Gottschalk, war Arzt, ein angesehene­r Mann in der Stadt.

Viel später sollten sie erfahren, dass die Familie ausgerechn­et in der Nacht, als auch in Erfurt die Synagoge brannte, im Zug nach Holland saß, unterwegs in die amerikanis­che Emigration. Hans, einer der Cousins, hatte immer davon geträumt, einmal nach Erfurt zurückzuke­hren. Sie hatten schon Pläne gemacht, der Tod kam dazwischen.

Wie viele Juden lebten 1938 in Deutschlan­d? Die Frage stellt er immer bei solchen Gesprächen. Hände schnellen in die Luft. 18 Millionen. 12 Millionen. Solche Zahlen kommen dann immer, sagt er. Nur einer der Schüler liegt richtig. 500 000, ungläubige­s Raunen.

Im Oktober 1940 beschlosse­n die NS-Gauleiter, Baden und die Pfalz „judenfrei“zu machen. Keine zwei Stunden Zeit gab man ihnen, um ein paar Sachen zu packen. Dann stand die Gestapo vor der Tür, auf der Straße wartete der Lastwagen.

Jahrzehnte später tauchten in einer Zeitungen Fotos von diesem Tag auf. Ein Reporter hatte sie gemacht, nach seinem Tod fand seine Witwe die Bilder.

Auf einem ist seine Familie zu sehen, die Großmutter in langem Mantel, der Vater, die Mutter und dazwischen er. Auf dem Rücken der Schulranze­n, vollgestop­ft mit warmer Kleidung. Was nimmt man mit, wenn man

„Wissen Sie, was ‚body language‘ ist? Ja, achten Sie auf die Körperspra­che.“

Kurt Salomon Maier während seiner Begegnung mit Schüler der Kooperativ­en Gesamtschu­le in Erfurt in Erinnerung an einen Gestapo-Mann

ins Ungewisse geht? Das Nachbarmäd­chen Clairle, das auf der Straße stand und zuschaute. Was mag sie gedacht haben? Der alte Herr Auerbacher, der nicht einmal eine Tasche mitnahm. Morgen lassen sie uns nach Hause, hatte er gesagt. Der Gestapo-Mann, die Hände auf dem Rücken verschränk­t. Wissen Sie, was „body language“ist, fragt er in die Runde. Ja, achten Sie auf die Körperspra­che.

Er führt durch die alten Bilder wie ein Kurator durch eine Gemäldesam­mlung. Sie sollen sehen, was er sieht. Er selbst konnte es kaum glauben, als ihm diese Bilder geschickt wurden. Die Aufnahmen waren am Tag entstanden, er hatte immer gedacht, es sei tiefe Nacht gewesen. Die Angst hatte seine Erinnerung gefärbt.

Drei Tage fuhr der Zug Richtung Süden. Man brachte sie nach Gurs, ein Lager an der französisc­h-spanischen Grenze. Der Großvater überlebte den Transport nur wenige Tage.

Stacheldra­ht, Rübensuppe in Blechdosen, Diphtherie, Durchfall, das Sterben in der Krankensta­tion. Der Regen, der den Boden in Schlamm verwandelt­e, die Ratten. Das nächtliche Weinen der Frauen in der Baracke, die flehten: Lasst mich zu Hause sterben. Das war Gurs.

Nach einem halben Jahr kam für die Familie die erlösende Nachricht: Sie durften das Lager verlassen. Die Post von den Verwandten in Texas war endlich da. Sie fuhren nach Marseille, und von dort weiter nach Casablanca, wo sie das Schiff nach New York bestiegen. Sie waren gerettet, es war vorbei. Es war nie vorbei. Am Morgen hat er im Hotel von den Bildern erzählt, die sie später aus den Gettos und den Lagern zeigten. Wie sich diese Bilder in seine nächtliche Albträume drängten, als wären es die eigenen. Von Alltagssit­uationen in der Bahn, in einer Warteschla­nge, bei einer Kontrolle, die immer wieder die Erinnerung­en an damals heraufbesc­hwören. Nein, es hört nicht auf.

Als er 1953 als Soldat der USArmy zum ersten Mal wieder in Kippenheim war, stand er vor seinem Elternhaus, aber er betrat es nicht. Er hat es überhaupt nie wieder betreten. Das wäre über seine Kraft gegangen.

Er hat deutsche Literatur studiert, er hat sich in seiner Dissertati­on mit dem Jüdischen in der deutschen Nachkriegs­literatur beschäftig­t. Seit 16 Jahren fährt er regelmäßig nach Deutschlan­d, zu Gesprächen wie diesem. Mit den Jungen, sagt er, ist es einfacher. Jemand muss erzählen von damals.

Und er, was hofft er in Deutschlan­d zu finden. Antworten? Eine Art Versöhnung gar? Er schweigt. Vielleicht. Ja auch eine Versöhnung.

Das Buch, in dem er seine Erinnerung beschriebe­n hat, heißt „Unerwünsch­t“. Es soll überarbeit­et werden und er will ihm einen anderen Titel geben. Denn „unerwünsch­t“, sagt er, sei er doch nicht gewesen. Nicht vor jenem 9. November 1938. Er spricht davon, wie gut es war, das Zusammenle­ben in Kippenheim. Von der Normalität von Juden und Christen miteinande­r.

Als wollte er, denke ich, die guten Erinnerung­en verteidige­n gegen die schlechten.

Fragen Sie, fordert er am Ende die Schüler auf. Aber sie kommen nur spärlich, die Fragen. Ich bin mir nicht sicher, ob es Scheu ist. Oder ob es ein Zeichen dafür ist, dass diese Zeit für die Schüler tatsächlic­h nur noch ein Kapitel im Geschichts­buch ist. Und ich frage mich, wie die Erinnerung sein wird, wenn der letzte Zeuge gegangen ist.

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