Thüringische Landeszeitung (Jena)
Mit Wut und mit Würde
9. November: Jena wehrt sich gegen Thügida und gedenkt der Opfer der NSDiktatur
In pechschwarze Nacht der Angst entlassen Allerlei Krachgerät: „Wir wollen Euch nicht!“
JENA. Jena gedachte der Opfer der NS-Dikatur. Und Jena wehrte sich gestern gegen den braunen Spuk, der die Stadt heimsuchte: mehr als 1000 Menschen gegen 80 Rechtsradikale.
Was für ein akustischer „himmlischer Rahmen“, der gestern weithin vernehmbar war in Jena. Hier die Krähen, die krächzend Nachtquartier in der Stadt suchten, da der Polizeihubschrauber über der Nazi-Demo im Damenviertel.
Im Abenddunkel vorm Westbahnhof dankte Oberbürgermeister Albrecht Schröter (SPD) den Jenaern: So viele wie nie seien diesmal erschienen, um der seit 1985 am Jahrestag der „Reichskristallnacht“dargebotenen Kranzniederlegung beizuwohnen: zum Gedenken an die rassisch verfolgten Jenaer Mitbürger, die vom Westbahnhof aus in die faschistischen Todeslager deportiert wurden. Die vielen Veranstaltungen an dem historisch vielgesichtigen Tag würden der Nazi-Demo im Damenviertel zum Trotz „das eigentliche Gesicht unserer Stadt zeigen“, sagte der OB. Er legte gemeinsam mit Benjamin Kochan, dem Rabbiner der Jüdischen Landesgemeinde, einen Kranz nieder.
Gisela Horn vom Arbeitskreis „Sprechende Vergangenheit“im Aktionsnetzwerk gegen Rechts richtete den Gruß einer Jenaerin aus. Sie könne nicht wie in den Jahren zuvor am Westbahnhof weilen, weil die Nazis vor ihrem Haus im Damenviertel Position bezogen hätten. Sie sei im Quartier geblieben, um zu sagen: Wir wollen euch nicht vor der Haustür haben! Superintendent Sebastian Neuß bezeichnete den Westbahnhof in Erinnerung an die deportierten Juden, Roma und Sinti als einen „bewegten und bewegenden Ort“. Nicht als Ergebnis einer Geheimoperation, sondern öffentlich hätten sie damals hier gestanden: gedemütigt, enttäuscht, beschämt „in die pechschwarze Nacht der Angst“entlassen.
Christopher Spehr, der Inhaber des Lehrstuhls für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät, mahnte: Die Verbrechen von damals mögen uns Heutige mit Sprachlosigkeit und Wut erfüllen. Doch müssten wir die Sprachlosigkeit überwinden und die Wut bändigen, indem wir „weiterhin ins Gespräch kommen“. Das betreffe am Vorabend des Luther-Geburtstages (10. November) auch den „Stachel im Fleisch“: die ablehnende Haltung des Reformators zu den Juden.
Eine Stunde vor dem Gedenken am Westbahnhof und im Anschluss an eine Fürbittandacht in der Stadtkirche hatten sich ebenfalls in vierstelliger Zahl Jenaer Bürger auf dem Marktplatz eingefunden: Vorm Bismarckbrunnen verlasen die Mitstreiter des Arbeitskreises „Sprechende Vergangenheit“die Namen von 40 Jenaern, die in der Zeit nach der „Reichskristallnacht“als Verfolgte der Nazis zu Tode kamen.
„Sie alle durften nicht leben, weil sie Juden waren“, sagte Gisela Horn. Sie seien auch durch die Gleichgültigkeit und das Wegsehen der Mitbürger gemordet worden. In den gestrigen Nachmittagsstunden hatten sich wieder viele Jenaer daran gemacht, jene auf 21 Stellen der Stadt verteilten 40 Messing-Stolpersteine zu reinigen, die an die ermordeten jüdischen Mitbürger erinnern. Würdiges Gedenken. Und wütender Protest: Sehr ungemütlich war es zeitweise in der engen Nollendorfer Straße, wo die Gruppe der Thügida-Gegner plötzlich im Block zu rennen begann. Flaschen flogen, Unbekannte zündeten auf einem Dach bengalische Feuer, die Polizei ließ den Wasserwerfer auffahren und bekam die Situation schnell in den Griff.
Hier kam es auch zu Auseinandersetzungen mit einem Grundstücksbesitzer, weil der verhindern wollte, dass Demoteilnehmer sein Grundstück als Rückzugsort nutzen. Nicht ungefährlich schien angesichts der Drängelei zudem mancher spitz zulaufende Vorgartenzaun. Menschen standen auf Rampen und Vorsprüngen, einfach um mehr zu sehen.
„Kommense her, reihen Sie sich ein!“Am Fürstengraben stellten sich Menschen auf und bildeten eine Lichterkette. Viele fühlten sich an den Herbst 1989 erinnert wie Irmgard Lindner, die sich bei Ralf Kleist eine Kerze anzündete. „Die brennt fünf Stunden“, sagte dieser.
Außerhalb des Damenviertels hielten sich die Beeinträchtigungen für den Einzelhandel weitestgehend in Grenzen. Der Lidl in der Camburger Straße war für etwa 15 Minuten abgeriegelt, weil er als möglicher Zugang zum Ankunftsort der Thügida hätte dienen können. Taghell ausgeleuchtet war der ehemalige Güterschuppen am Saalbahnhof. Auch dies eine Sicherheitsmaßnahme.
Und Thügida? Marschierte durch das Damenviertel, wo sich der Protest gegen den braunen Spuk kreativ entlud: mit Projektionen an den Häuserwänden, mit Kochtöpfen und anderem Krachgerät, aber auch mit Kerzen. „Wir wollen Euch nicht!“Begriffen haben es die Neonazis nicht.