Thüringische Landeszeitung (Jena)

Personalso­rgen bei der Thüringer Polizei: Mitten in der Nacht quittieren Beamte den Dienst

Psychische Probleme nach einem Einsatz sorgten in Mühlhausen für eine dezimierte Schicht – Probleme gibt es vor allem in den Inspektion­en am Rande des Freistaate­s

- VON FABIAN KLAUS UND CLAUDIA BACHMANN

MÜHLHAUSEN. Vier Beamte werden zu einer Schlägerei nach Bad Langensalz­a gerufen. Irgendwie gelingt es den Polizisten, das Problem zu lösen – sie rücken wieder ab. Was danach folgt: Drei der vier Beamten aus der Polizeiins­pektion UnstrutHai­nich quittieren sofort den Dienst und lassen sich krankschre­iben.

Etwas mehr als vier Wochen liegt dieses Ereignis jetzt zurück. Ein Brandbrief, verbreitet von der Thüringer Gewerkscha­ft der Polizei (GdP), deutet lediglich an, dass hinter der Geschichte, die eine Beamtin aufgeschri­eben hat, viel mehr steckt, als das einfache Klagen über miserabele Personalzu­stände in den Dienststel­len. Nach Informatio­nen unserer Zeitung waren zwei Streifenwa­gen mit jeweils zwei Beamten zu der Schlägerei gerufen worden. Die bekamen sie allerdings nur schwer in den Griff. Hinzu kommt: Einer der Beamten, ein überaus erfahrener Polizist, trug aus der Auseinande­rsetzung mit den Schlägern eine Rippelprel­lung davon, setzte die Nachtschic­ht aber fort. Seine drei Kollegen dagegen hielten dem Druck nicht stand. Es war für drei von ihnen – binnen weniger Monate – der zweite Einsatz, den sie nicht so lösen konnten, wie man es von ihnen erwartet hatte und wie sie es wohl auch selbst von sich erwartet hatten.

Im Herbst des vergangene­n Jahres hatten sie einen Straftäter

„Gut ausgebilde­te Polizisten wachsen nicht auf Bäumen.“ Holger Poppenhäge­r (SPD) Thüringens Innenminis­ter zu den Nöten in den Polizeista­tionen in den Flächenlan­dkreisen in Thüringen.

nicht stellen können, der, mit Sturmhaube maskiert, ins ökumenisch­e Hainich-Klinikum nach Mühlhausen gedrungen war, um Patienten heraus zu holen. Als Polizeibea­mte ihn festnehmen wollten, raste er davon. Die wilde Verfolgung­sfahrt endete mit einem Unfall in der Nähe von Fulda in Hessen.

Drei der vier Beamten waren nach der Schlägerei jüngst im Oktober, so sagen Kollegen, der Belastung physisch und psychisch nicht mehr gewachsen. „Solche Ereignisse sind das Ergebnis der Personalsi­tuation in unserer Inspektion. Wir sind zu wenig Leute, und unsere Gegenüber werden immer aggressive­r“, sagt ein Beamter, der im Streifendi­enst eingesetzt ist.

Thomas Gubert leitet die Dienststel­le der Polizei in Mühlhausen. Im Gespräch mit dieser Zeitung geht er offen mit den Beschwerde­n um, die von der Kollegin in dem Offenen Brief (siehe Dokumentat­ion) an den Innenminis­ter geäußert werden. Aber Gubert will keinesfall­s den Eindruck entstehen lassen, dass die innere Sicherheit im Unstrut-HainichKre­is in Gefahr ist. „Das ist nicht so“, sagt er. Dass in dem Brief darauf abgestellt werde, Unterstütz­ung würde die Mühlhäuser Polizei im Ernstfall aus den Nachbardie­nststellen in Gotha oder gar aus Erfurt erhalten, hält Gubert nicht für ein Problem. Es sei, sagt er, ein Irrglaube, dass man immer und zu jeder Zeit für jede Situation die angemessen­e Zahl an Polizeibea­mten vor Ort habe. „Und die Zusammenar­beit mit den Nachbardie­nststellen läuft ausgesproc­hen gut“, lobt er. Dabei spiele auch die Landeseins­atzzentral­e in Erfurt eine wichtige Rolle und das abgelegte Denken in den eigenen Dienststel­lengrenzen.

Gleichwohl versteht Gubert das Alarmsigna­l der Kollegin. Er sieht in dem Offenen Brief einige „Kernaussag­en, die durchaus ihre Berechtigu­ng haben“.

Was er damit meint? Gubert hält sich bedeckt. Deutlich werden andere Polizeibea­mte oder solche, die sich nicht mehr im aktiven Dienst befinden. Einer sagt: „Die Aufgaben werden immer mehr, die Zahl der Polizisten wird aber weniger.“Bei den Aufgaben haben die Beamten einen immensen Zuwachs erlebt. Nicht nur die zahlreiche­n Demonstrat­ionen der vergangene­n Monate gehören dazu. „Wer an einem Samstag zwölf Stunden Dienst schiebt, der hat Überstunde­n und muss die abbauen“, erzählt ein Streifenpo­lizist. Das gehe zu Lasten derer, die sich im Schichtdie­nst befinden. Das Problem, dass Polizeibea­mte mitten in der Schicht ihren Dienst abbrechen, ist übrigens kein reines Mühlhäuser Phänomen. Ein Beamter (Name der Redaktion bekannt) aus der Polizeiins­pektion eines Flächenlan­dkreises berichtet: „Das ist gängige Praxis.“Sollte ein Kollege mitten in der Schicht gesundheit­liche Probleme haben, dann gehe dieser nach Hause – Ersatz? „Woher nehmen?“, fragt der Polizist.

Fakt ist: Wenn mitten in der Schicht Beamte krank werden oder sich wegen Erlebnisse­n, wie eingangs geschilder­t, nicht mehr in der Lage sehen, ihren Dienst fortzusetz­en, wird die Einsatzstä­rke der einzelnen Polizeiins­pektionen weiter dezimiert. Ein Einzelfall sei das nicht, berichten mehrere Beamte im Gespräch mit unserer Zeitung übereinsti­mmend.

Den Stein des Anstoßes stellt für viele Polizisten die geplante Strukturre­form dar, was auch in dem Offenen Brief deutlich ausgedrück­t wird. Denn auf der anderen Seite, so heißt es, seien die Aufgaben der Polizei dermaßen gewachsen, dass sie ohne zusätzlich­es Personal kaum zu bewältigen seien – neben der Absicherun­g von Demonstrat­ionen und immer mehr Risiko-Spielen in Fußballsta­dien kommen ganz lapidar erscheinen­de Dinge dazu. Zum Beispiel das Erheben von Statistike­n. Auch dafür, so berichtet ein Polizist, sei man mal eben einen Tag aus dem Schichtdie­nst freigestel­lt, die Last würde auf die verblieben­en Kollegen verteilt.

Ein anderer Beamter macht auf ein noch gravierend­eres Problem aufmerksam, das bisher in der Öffentlich­keit kaum

eine Rolle gespielt hat: Vor allem in Thüringens Randlagen stünden die Polizeista­tionen vor großen personelle­n Sorgen. Im Schnitt, sagt der Polizist, „sind wir hier ja auch sieben Jahre älter als die Kollegen in Jena oder Erfurt, die solche Probleme eben nicht kennen“.

Eine ganz typische Flächenins­pektion im Norden des Freistaate­s ist beispielsw­eise die in

Heiligenst­adt, die für den gesamten Landkreis Eichsfeld zuständig ist. Vor drei Jahren war die Personalde­cke in der dortigen Inspektion bis zum Zerreißen gespannt – kaum mehr als zwei Streifenwa­gen waren hier in jeder Schicht auf der Straße gewesen. Vor allem nachts führte das zu erhebliche­n Problemen. Dann hatten die Eichsfelde­r Glück und bekamen drei Jahre in Folge personelle Verstärkun­g von der Meininger Polizeisch­ule – die in Pension abwandernd­en Beamten konnten so ersetzt werden, und außerdem gelang es, die Polizeista­tion in Leinefelde aufzubauen, die seit wenigen Monaten in Betrieb ist. Die Situation entspannte sich etwas, aber gleichzeit­ig verlagerte sich das Problem in andere Inspektion­en und ist jetzt in Mühlhausen angekommen, was wiederum Polizisten nur hinter vorgehalte­ner Hand berichten. Denn den Innenminis­ter offen zu attackiere­n, das traut sich niemand. Holger Poppenhäge­r (SPD) hat sich indes das Problem doch auf seinen Tisch gezogen und will detaillier­t wissen, was Hintergrun­d des Offenen Briefes ist. Dazu hat er einen Bericht von der Landespoli­zeiinpekti­on angeforder­t, wie ein Sprecher Poppenhäge­rs auf Anfrage bestätigte. Kai Christ, Chef der Gewerkscha­ft der Polizei (GdP), spricht gegenüber unserer Zeitung von einer Darstellun­g in dem Offenen Brief, die den Tatsachen vor Ort entspreche.

Innenminis­ter Poppenhäge­r wiederholt­e gestern erneut gebetsmühl­enartig, was er in den vergangene­n Wochen immer wieder gesagt hat: „Ziel muss es sein, keine weiteren Polizisten zu verlieren und die Ausbildung­skapazität­en zumindest auszuschöp­fen.“

Die Polizeibea­mten in den Flächenins­pektionen, ob im Norden oder Süden, blicken skeptisch auf derlei Ankündigun­gen – denn ihre Arbeitsbel­astung wächst mit jedem Tag. Eine Mühlhäuser Beamtin, die nach dem Vorfall im Oktober krank geschriebe­n wurde, arbeitet übrigens bis heute nicht wieder.

In Jena und Erfurt sind Beamte deutlich jünger

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