Thüringische Landeszeitung (Jena)
Personalsorgen bei der Thüringer Polizei: Mitten in der Nacht quittieren Beamte den Dienst
Psychische Probleme nach einem Einsatz sorgten in Mühlhausen für eine dezimierte Schicht – Probleme gibt es vor allem in den Inspektionen am Rande des Freistaates
MÜHLHAUSEN. Vier Beamte werden zu einer Schlägerei nach Bad Langensalza gerufen. Irgendwie gelingt es den Polizisten, das Problem zu lösen – sie rücken wieder ab. Was danach folgt: Drei der vier Beamten aus der Polizeiinspektion UnstrutHainich quittieren sofort den Dienst und lassen sich krankschreiben.
Etwas mehr als vier Wochen liegt dieses Ereignis jetzt zurück. Ein Brandbrief, verbreitet von der Thüringer Gewerkschaft der Polizei (GdP), deutet lediglich an, dass hinter der Geschichte, die eine Beamtin aufgeschrieben hat, viel mehr steckt, als das einfache Klagen über miserabele Personalzustände in den Dienststellen. Nach Informationen unserer Zeitung waren zwei Streifenwagen mit jeweils zwei Beamten zu der Schlägerei gerufen worden. Die bekamen sie allerdings nur schwer in den Griff. Hinzu kommt: Einer der Beamten, ein überaus erfahrener Polizist, trug aus der Auseinandersetzung mit den Schlägern eine Rippelprellung davon, setzte die Nachtschicht aber fort. Seine drei Kollegen dagegen hielten dem Druck nicht stand. Es war für drei von ihnen – binnen weniger Monate – der zweite Einsatz, den sie nicht so lösen konnten, wie man es von ihnen erwartet hatte und wie sie es wohl auch selbst von sich erwartet hatten.
Im Herbst des vergangenen Jahres hatten sie einen Straftäter
„Gut ausgebildete Polizisten wachsen nicht auf Bäumen.“ Holger Poppenhäger (SPD) Thüringens Innenminister zu den Nöten in den Polizeistationen in den Flächenlandkreisen in Thüringen.
nicht stellen können, der, mit Sturmhaube maskiert, ins ökumenische Hainich-Klinikum nach Mühlhausen gedrungen war, um Patienten heraus zu holen. Als Polizeibeamte ihn festnehmen wollten, raste er davon. Die wilde Verfolgungsfahrt endete mit einem Unfall in der Nähe von Fulda in Hessen.
Drei der vier Beamten waren nach der Schlägerei jüngst im Oktober, so sagen Kollegen, der Belastung physisch und psychisch nicht mehr gewachsen. „Solche Ereignisse sind das Ergebnis der Personalsituation in unserer Inspektion. Wir sind zu wenig Leute, und unsere Gegenüber werden immer aggressiver“, sagt ein Beamter, der im Streifendienst eingesetzt ist.
Thomas Gubert leitet die Dienststelle der Polizei in Mühlhausen. Im Gespräch mit dieser Zeitung geht er offen mit den Beschwerden um, die von der Kollegin in dem Offenen Brief (siehe Dokumentation) an den Innenminister geäußert werden. Aber Gubert will keinesfalls den Eindruck entstehen lassen, dass die innere Sicherheit im Unstrut-HainichKreis in Gefahr ist. „Das ist nicht so“, sagt er. Dass in dem Brief darauf abgestellt werde, Unterstützung würde die Mühlhäuser Polizei im Ernstfall aus den Nachbardienststellen in Gotha oder gar aus Erfurt erhalten, hält Gubert nicht für ein Problem. Es sei, sagt er, ein Irrglaube, dass man immer und zu jeder Zeit für jede Situation die angemessene Zahl an Polizeibeamten vor Ort habe. „Und die Zusammenarbeit mit den Nachbardienststellen läuft ausgesprochen gut“, lobt er. Dabei spiele auch die Landeseinsatzzentrale in Erfurt eine wichtige Rolle und das abgelegte Denken in den eigenen Dienststellengrenzen.
Gleichwohl versteht Gubert das Alarmsignal der Kollegin. Er sieht in dem Offenen Brief einige „Kernaussagen, die durchaus ihre Berechtigung haben“.
Was er damit meint? Gubert hält sich bedeckt. Deutlich werden andere Polizeibeamte oder solche, die sich nicht mehr im aktiven Dienst befinden. Einer sagt: „Die Aufgaben werden immer mehr, die Zahl der Polizisten wird aber weniger.“Bei den Aufgaben haben die Beamten einen immensen Zuwachs erlebt. Nicht nur die zahlreichen Demonstrationen der vergangenen Monate gehören dazu. „Wer an einem Samstag zwölf Stunden Dienst schiebt, der hat Überstunden und muss die abbauen“, erzählt ein Streifenpolizist. Das gehe zu Lasten derer, die sich im Schichtdienst befinden. Das Problem, dass Polizeibeamte mitten in der Schicht ihren Dienst abbrechen, ist übrigens kein reines Mühlhäuser Phänomen. Ein Beamter (Name der Redaktion bekannt) aus der Polizeiinspektion eines Flächenlandkreises berichtet: „Das ist gängige Praxis.“Sollte ein Kollege mitten in der Schicht gesundheitliche Probleme haben, dann gehe dieser nach Hause – Ersatz? „Woher nehmen?“, fragt der Polizist.
Fakt ist: Wenn mitten in der Schicht Beamte krank werden oder sich wegen Erlebnissen, wie eingangs geschildert, nicht mehr in der Lage sehen, ihren Dienst fortzusetzen, wird die Einsatzstärke der einzelnen Polizeiinspektionen weiter dezimiert. Ein Einzelfall sei das nicht, berichten mehrere Beamte im Gespräch mit unserer Zeitung übereinstimmend.
Den Stein des Anstoßes stellt für viele Polizisten die geplante Strukturreform dar, was auch in dem Offenen Brief deutlich ausgedrückt wird. Denn auf der anderen Seite, so heißt es, seien die Aufgaben der Polizei dermaßen gewachsen, dass sie ohne zusätzliches Personal kaum zu bewältigen seien – neben der Absicherung von Demonstrationen und immer mehr Risiko-Spielen in Fußballstadien kommen ganz lapidar erscheinende Dinge dazu. Zum Beispiel das Erheben von Statistiken. Auch dafür, so berichtet ein Polizist, sei man mal eben einen Tag aus dem Schichtdienst freigestellt, die Last würde auf die verbliebenen Kollegen verteilt.
Ein anderer Beamter macht auf ein noch gravierenderes Problem aufmerksam, das bisher in der Öffentlichkeit kaum
eine Rolle gespielt hat: Vor allem in Thüringens Randlagen stünden die Polizeistationen vor großen personellen Sorgen. Im Schnitt, sagt der Polizist, „sind wir hier ja auch sieben Jahre älter als die Kollegen in Jena oder Erfurt, die solche Probleme eben nicht kennen“.
Eine ganz typische Flächeninspektion im Norden des Freistaates ist beispielsweise die in
Heiligenstadt, die für den gesamten Landkreis Eichsfeld zuständig ist. Vor drei Jahren war die Personaldecke in der dortigen Inspektion bis zum Zerreißen gespannt – kaum mehr als zwei Streifenwagen waren hier in jeder Schicht auf der Straße gewesen. Vor allem nachts führte das zu erheblichen Problemen. Dann hatten die Eichsfelder Glück und bekamen drei Jahre in Folge personelle Verstärkung von der Meininger Polizeischule – die in Pension abwandernden Beamten konnten so ersetzt werden, und außerdem gelang es, die Polizeistation in Leinefelde aufzubauen, die seit wenigen Monaten in Betrieb ist. Die Situation entspannte sich etwas, aber gleichzeitig verlagerte sich das Problem in andere Inspektionen und ist jetzt in Mühlhausen angekommen, was wiederum Polizisten nur hinter vorgehaltener Hand berichten. Denn den Innenminister offen zu attackieren, das traut sich niemand. Holger Poppenhäger (SPD) hat sich indes das Problem doch auf seinen Tisch gezogen und will detailliert wissen, was Hintergrund des Offenen Briefes ist. Dazu hat er einen Bericht von der Landespolizeiinpektion angefordert, wie ein Sprecher Poppenhägers auf Anfrage bestätigte. Kai Christ, Chef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), spricht gegenüber unserer Zeitung von einer Darstellung in dem Offenen Brief, die den Tatsachen vor Ort entspreche.
Innenminister Poppenhäger wiederholte gestern erneut gebetsmühlenartig, was er in den vergangenen Wochen immer wieder gesagt hat: „Ziel muss es sein, keine weiteren Polizisten zu verlieren und die Ausbildungskapazitäten zumindest auszuschöpfen.“
Die Polizeibeamten in den Flächeninspektionen, ob im Norden oder Süden, blicken skeptisch auf derlei Ankündigungen – denn ihre Arbeitsbelastung wächst mit jedem Tag. Eine Mühlhäuser Beamtin, die nach dem Vorfall im Oktober krank geschrieben wurde, arbeitet übrigens bis heute nicht wieder.
In Jena und Erfurt sind Beamte deutlich jünger