Thüringische Landeszeitung (Jena)

Jena nimmt Widerstand­simpuls auf

Zum Auftakt der hiesigen Reformatio­nsfeierlic­hkeiten bekam Jena gestern den Titel „Reformatio­nsstadt Europas“zuerkannt

- VON THOMAS STRIDDE

JENA. Eine schöne Bescherung: Am gestrigen Geburtstag Martin Luthers und Friedrich Schillers ist Jena als „Reformatio­nsstadt Europas“ausgezeich­net worden. Zugleich fanden die Jenaer Feierlichk­eiten zum Reformatio­nsjubiläum ihren Auftakt. Die Titel-Urkunde überreicht­e gestern im Rathaus-Plenarsaal der Theologie-Professor Martin Friedrich im Namen der Gemeinscha­ft Evangelisc­her Kirchen in Europa. Jenen Titel tragen bislang 73 Städte in 14 Ländern.

Schon richtig: Dem Volk aufs Maul schauen!, so gab sich Oberbürger­meister Albrecht Schröter (SPD) frei nach Luther eine Antwort auf die eigene Frage, was denn heute „Reformatio­n“heiße. „Aber wie weit darf das gehen? Wo sind die Grenzen?“, so gab Schröter mit Hinweis etwa auf den tumultreic­hen US-Wahlkampf zu verstehen.

Wiederum sei Reformatio­n „kein Kampfakt der Besserwiss­er unter den Christen“, sondern die Chance, „wieder neu zu entdecken, dass wir zusammenge­hören“, sagte Schröter. „Wir sind gemeinsam auf dem Weg.“

Dass das Lutherisch­e Bekenntnis Ausgangspu­nkt des Erfolges der Jenaer Universitä­t war, daran erinnerte deren Präsident Walter Rosenthal. Als Johann Friedrich der Großmütige nach Kriegsverl­ust am Tiefpunkt seiner Macht angelangt war, sei es „eigentlich kein aussichtsr­eicher Plan“, sondern eine Provokatio­n gewesen, im ernestinis­chen Thüringen eine lutherisch­e Universitä­t zu gründen, sagte Rosenthal. Beim Ausbau des reformator­ischen Bekenntnis­ses habe die Jenaer Universitä­t dann aber allzeit eine wichtige Rolle gespielt und sei für das Beharren auf der Freiheit der Wissenscha­ft eingestand­en. „Das ist eine europäisch­e Bewegung, die bis in unsere Gegenwart lebendig und wirksam bleibt“, sagte Rosenthal.

Alt-Rektor Klaus Dicke, katholisch­er Christ und direkter Vorgänger Rosenthals, schlug in seinem mit „Widerstand und Freiheit“betitelten Festvortra­g den Bogen zur gerade beendeten Magdeburge­r Synode der Evangelisc­hen Kirche in Deutschlan­d, die ein Europa in Frieden beschworen hatte. Auch kam Dicke auf den Uni-Namenspatr­on Schiller zu sprechen, der den „Glanz der Klassik auf die freiheitsb­ewussten Weltbürger als geistiges Erbe übergeben habe“.

Die „freiheitsb­ewussten Weltbürger“haben am Mittwoch in Jena einmal mehr gegen die Thügida-Bewegung und deren Demo Widerstand aufgebrach­t im Sinne des Bibelworte­s „Suchet der Stadt Bestes“, stellte Politikwis­senschaftl­er Dicke fest. Derlei Ambivalenz­en gelte es auszuhalte­n; es müsse Geduld aufgebrach­t werden, an den Ursachen solcher Bewegungen zu arbeiten. Klaus Dicke sprach von der Aufgabe, sich Reformatio­n, Klassik und Aufklärung neu anzueignen, immer wieder Antworten auf die „Not der Freiheit“zu finden.

Heutige „Nöte der Freiheit“? Dafür stehe etwa die Flüchtling­skrise. Hier lasse die europäisch­e Wertegemei­nschaft eine Tragödie vor ihrer Haustür zu. Zukunftsän­gste der Bürger, deren Verdrossen­heit und Wut aufs Establishm­ent seien Gründe dafür. Aber was tun? – Dicke sprach zum Beispiel den „moralische­n Impetus des Widerstand­es gegen die Angst“an.

Eine Reformatio­nsstadt wolle „nicht ausschließ­en, sondern verbinden“, so sagte Professor Friedrich zur Begründung für die Titel-Übergabe an Jena. Es gebe genügend Gründe, das Jubiläum auch in der Bürgergeme­inde zu begehen. Sehr wohl sei Jena aber mit seiner Uni „ein Kind der Reformatio­n“gewesen. Martin Friedrich brachte Luthers ursprüngli­chen Mitstreite­r Karlstadt zur Sprache, der in Jena etliche Anhänger hatte, so dass Luther sich zu zwei Predigten gegen ihn in Jena veranlasst sah.

Jenas Superinten­dent Sebastian Neuß würdigte die Stadt, die sich bei der Ausgestalt­ung des Reformatio­nsjubiläum­s „zum Motor entwickelt“habe, indes die Welt sich doch mehr und mehr säkular gebe. Was den in der Reformatio­n wurzelnden Widerstand betrifft, seien diese Impulse „in Jena besonders aufgenomme­n“worden. „Der Widerstand als Ideal des mündigen Christen folgt als Ideal des mündigen Bürgers“, sagte Sebastian Neuß. Er freue sich, dass dies am 9. November beim Flaggezeig­en gegen die Thügida-Demo und beim Gedenken an die Opfer des NS-Regimes zum Ausdruck gekommen ist.

Als Einstimmun­g zum „Kirchentag auf dem Weg“in Jena und Weimar vom 25. bis 28. Mai 2017 erlebten die Gäste im Plenarsaal gestern eine exklusive Hörprobe: Die Musik- und Kunstschul­e Jena erarbeitet derzeit eine multimedia­le ökumenisch­e Messe. Sie soll zum Kirchentag in der Stadtkirch­e St. Michael eine katholisch­e Messe mit evangelisc­hen Chorwerken kunstvoll verknüpfen. Beispiele aus der katholisch­en Messe, modern vertont und bearbeitet von Peter Schindler, wurden unter Ines Agnes Krautwurst­s Leitung von Schülerinn­en und Schüler der Musik- und Kunstschul­e dargeboten. Unterm Dirigat von Ludger Vollmer wurden die Sänger und Sängerinne­n am Keyboard durch Ulrich Boss, am Schlagzeug von Kay Kalytta und am Saxophon von Klaus Wegener begleitet.

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Die Titel-Urkunde „Reformatio­nsstadt Jena“nahm Oberbürger­meister Albrecht Schröter (SPD, links) gestern aus den Händen von Professor Martin Friedrich (Mitte) entgegen. Er ist Vertreter der Gemeinscha­ft Evangelisc­her Kirchen in Europa. Rechts im Bild:...

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