Thüringische Landeszeitung (Jena)
Jena nimmt Widerstandsimpuls auf
Zum Auftakt der hiesigen Reformationsfeierlichkeiten bekam Jena gestern den Titel „Reformationsstadt Europas“zuerkannt
JENA. Eine schöne Bescherung: Am gestrigen Geburtstag Martin Luthers und Friedrich Schillers ist Jena als „Reformationsstadt Europas“ausgezeichnet worden. Zugleich fanden die Jenaer Feierlichkeiten zum Reformationsjubiläum ihren Auftakt. Die Titel-Urkunde überreichte gestern im Rathaus-Plenarsaal der Theologie-Professor Martin Friedrich im Namen der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa. Jenen Titel tragen bislang 73 Städte in 14 Ländern.
Schon richtig: Dem Volk aufs Maul schauen!, so gab sich Oberbürgermeister Albrecht Schröter (SPD) frei nach Luther eine Antwort auf die eigene Frage, was denn heute „Reformation“heiße. „Aber wie weit darf das gehen? Wo sind die Grenzen?“, so gab Schröter mit Hinweis etwa auf den tumultreichen US-Wahlkampf zu verstehen.
Wiederum sei Reformation „kein Kampfakt der Besserwisser unter den Christen“, sondern die Chance, „wieder neu zu entdecken, dass wir zusammengehören“, sagte Schröter. „Wir sind gemeinsam auf dem Weg.“
Dass das Lutherische Bekenntnis Ausgangspunkt des Erfolges der Jenaer Universität war, daran erinnerte deren Präsident Walter Rosenthal. Als Johann Friedrich der Großmütige nach Kriegsverlust am Tiefpunkt seiner Macht angelangt war, sei es „eigentlich kein aussichtsreicher Plan“, sondern eine Provokation gewesen, im ernestinischen Thüringen eine lutherische Universität zu gründen, sagte Rosenthal. Beim Ausbau des reformatorischen Bekenntnisses habe die Jenaer Universität dann aber allzeit eine wichtige Rolle gespielt und sei für das Beharren auf der Freiheit der Wissenschaft eingestanden. „Das ist eine europäische Bewegung, die bis in unsere Gegenwart lebendig und wirksam bleibt“, sagte Rosenthal.
Alt-Rektor Klaus Dicke, katholischer Christ und direkter Vorgänger Rosenthals, schlug in seinem mit „Widerstand und Freiheit“betitelten Festvortrag den Bogen zur gerade beendeten Magdeburger Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, die ein Europa in Frieden beschworen hatte. Auch kam Dicke auf den Uni-Namenspatron Schiller zu sprechen, der den „Glanz der Klassik auf die freiheitsbewussten Weltbürger als geistiges Erbe übergeben habe“.
Die „freiheitsbewussten Weltbürger“haben am Mittwoch in Jena einmal mehr gegen die Thügida-Bewegung und deren Demo Widerstand aufgebracht im Sinne des Bibelwortes „Suchet der Stadt Bestes“, stellte Politikwissenschaftler Dicke fest. Derlei Ambivalenzen gelte es auszuhalten; es müsse Geduld aufgebracht werden, an den Ursachen solcher Bewegungen zu arbeiten. Klaus Dicke sprach von der Aufgabe, sich Reformation, Klassik und Aufklärung neu anzueignen, immer wieder Antworten auf die „Not der Freiheit“zu finden.
Heutige „Nöte der Freiheit“? Dafür stehe etwa die Flüchtlingskrise. Hier lasse die europäische Wertegemeinschaft eine Tragödie vor ihrer Haustür zu. Zukunftsängste der Bürger, deren Verdrossenheit und Wut aufs Establishment seien Gründe dafür. Aber was tun? – Dicke sprach zum Beispiel den „moralischen Impetus des Widerstandes gegen die Angst“an.
Eine Reformationsstadt wolle „nicht ausschließen, sondern verbinden“, so sagte Professor Friedrich zur Begründung für die Titel-Übergabe an Jena. Es gebe genügend Gründe, das Jubiläum auch in der Bürgergemeinde zu begehen. Sehr wohl sei Jena aber mit seiner Uni „ein Kind der Reformation“gewesen. Martin Friedrich brachte Luthers ursprünglichen Mitstreiter Karlstadt zur Sprache, der in Jena etliche Anhänger hatte, so dass Luther sich zu zwei Predigten gegen ihn in Jena veranlasst sah.
Jenas Superintendent Sebastian Neuß würdigte die Stadt, die sich bei der Ausgestaltung des Reformationsjubiläums „zum Motor entwickelt“habe, indes die Welt sich doch mehr und mehr säkular gebe. Was den in der Reformation wurzelnden Widerstand betrifft, seien diese Impulse „in Jena besonders aufgenommen“worden. „Der Widerstand als Ideal des mündigen Christen folgt als Ideal des mündigen Bürgers“, sagte Sebastian Neuß. Er freue sich, dass dies am 9. November beim Flaggezeigen gegen die Thügida-Demo und beim Gedenken an die Opfer des NS-Regimes zum Ausdruck gekommen ist.
Als Einstimmung zum „Kirchentag auf dem Weg“in Jena und Weimar vom 25. bis 28. Mai 2017 erlebten die Gäste im Plenarsaal gestern eine exklusive Hörprobe: Die Musik- und Kunstschule Jena erarbeitet derzeit eine multimediale ökumenische Messe. Sie soll zum Kirchentag in der Stadtkirche St. Michael eine katholische Messe mit evangelischen Chorwerken kunstvoll verknüpfen. Beispiele aus der katholischen Messe, modern vertont und bearbeitet von Peter Schindler, wurden unter Ines Agnes Krautwursts Leitung von Schülerinnen und Schüler der Musik- und Kunstschule dargeboten. Unterm Dirigat von Ludger Vollmer wurden die Sänger und Sängerinnen am Keyboard durch Ulrich Boss, am Schlagzeug von Kay Kalytta und am Saxophon von Klaus Wegener begleitet.