Thüringische Landeszeitung (Jena)
Richter erlauben die Verhöhnung der Opfer
Die Ereignisse am 9. November 1938 und die Aufmärsche in Jena
Reinhard Schramm aus Ilmenau, Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde, erinnerte zum 9. November an dies:
Wir gedenken der Opfer der Reichspogromnacht, der furchtbaren „Kristallnacht“, die damals in jedem Thüringer Dorf, in jeder Thüringer Stadt den Übergang von Diskriminierung zu roher Gewalt bedeutete und von der Bevölkerungsmehrheit gleichgültig hingenommen wurde. In Gleicherwiesen riss man einem Juden den Bart mit samt der Lippe heraus, bevor man ihn auf den LKW trieb.
In Ilmenau trieben die Studenten die Juden wie Vieh ins Rathaus, um der Zerstörung ihrer Kultgegenstände zusehen zu müssen.
In Erfurt quälte man die jüdischen Männer unmenschlich in einer Turnhalle...
Es brannten die Synagogen, jüdische Geschäfte und Wohnungen wurden zerstört, die jüdischen Männer kamen in das KZ Buchenwald. Und doch war diese Nacht nur der Auftakt zum Völkermord an den europäischen Juden. Hetze war zu Hass und Hass zu Mord geworden. Es gilt die Frage zu beantworten: Was geht uns der 9. November 1938 heute an?
Hass auf Fremde, Hass auf Juden, Rassenhass erleben wir heute wieder. Und beim Anblick brennender Flüchtlingsheime erscheinen vor den Augen die Bilder der brennenden Synagogen in der „Kristallnacht“. Erst vor wenigen Tagen wurde in Arnstadt der Gedenkstein für unsere 1938 zerstörte Synagoge beschädigt. Und die neuen Nazis der Thügida haben die richterliche Erlaubnis, am Jahrestag der „Kristallnacht“mit brennenden Fackeln durch Jena zu marschieren. Die Neonazis taten das in diesem Jahr bereits zu Hitlers Geburtstag und am Todestag von Rudolf Hess. Zum dritten Mal erlebten wir in diesem Jahr in unserem Freistaat die genehmigte Glorifizierung nationalsozialistischer Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Richter des Verwaltungsgerichts erkennen den Zusammenhang dieser drei durch die gleichen Personen organisierten Ereignisse nicht. Sie erlauben dieses Unwesen. Als ich beim ersten Mal öffentlich protestierte, attestierte der zuständige Justizminister den Richtern des Verwaltungsgerichts ordnungsgemäßes Verhalten. Und am Jahrestag der „Kristallnacht“, beim dritten Mal, dürfen die Nazi-Fackeln direkt unsere Opfer verhöhnen. Die Verhöhnung der Opfer des Holocaust ist weder Ordnung noch Recht. Es ist das Ergebnis des Versagens der Justiz.
Der CSU-Bürgermeister von Wunsiedel unterbrach einst in seiner Stadt mit einem Sitzstreik die Hess-Gedenkmärsche. Unsere Städte brauchen genau diese Zivilcourage führender Politiker.
Ich werde die Mitglieder unserer jüdischen Gemeinden nicht zu Sitzstreik oder Hungerstreik aufrufen, wie es einst mein Freund Romani Rose, der heutige Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, tat.
Aber eine weitere Genehmigung von Aufmärschen zur defacto-Glorifizierung des Nationalsozialismus – wie wir es am Jahrestag der „Kristallnacht“erleben – darf unsere Gesellschaft nicht dulden. Staat und Gesellschaft müssen uns auch auf unseren Straßen verteidigen.
Versagen der Justiz ist offenkundig