Thüringische Landeszeitung (Jena)
Eine romantische Wiederentdeckung
Klangvolle Großtat: Die Weimarerin Cora Irsen schließt die Gesamtaufnahme des Klavierwerks von Marie Jaëll ab
WEIMAR. Vollendet hat die Weimarer Pianistin Cora Irsen ihr Großprojekt einer Gesamteinspielung der Klaviermusik Marie Jaëlls (18461925). Die vierte und letzte CD ist jetzt beim Altenburger Label querstand erschienen und stellt die beiden Konzerte der Liszt-Elevin, begleitet vom Kölner Rundfunkorchester, vor. Damit ist zum ersten Mal überhaupt die klangvolle Begegnung mit einem umfassenden Werk-Zyklus – und dem Hauptwerk Jaëlls – möglich.
Die gebürtige Elsässerin, die Jahre ihre Lebens in Weimar verbrachte, entpuppt sich gleich beim ersten Zuhören als eine völlig zu Unrecht vergessene Romantikerin. Ihr d-MollKonzert (1877) mag von ferne wie etwas von Robert Schumann oder einem verspäteten Chopin anmuten, trägt aber durchaus sehr eigene, ja eigenwillige Züge. Während sie im Orchestersatz – vielleicht auch aus Mangel an Erfahrung – recht konventionell agiert, verrät der Solopart die versierte Virtuosin, die behende vollgriffig-opulente Akkordfolgen setzt und noch in den Passagen wirkmächtig schillernde Läufe verlangt.
Dabei unterwirft die Jaëll sich keineswegs leichtfertig formalen Zwängen, sondern entfaltet die Freiheit eines rhapsodisch erzählenden, melodienseligen Sinnierens, das sie uns zweifellos als eine Seelenverwandte Liszts kenntlich macht. Nur zeigt sie den größeren Mut zum natürlich weiblichen Gefühl: Ganz zart, ganz milde – und technisch geradezu simpel – entspinnt sie etwa im langsamen Mittelsatz eine anrührende Kindermelodie – doch ohne dass sie es dabei beließe.
Die Interpretin geht ein metaphysisches Bündnis ein
Cora Irsen trägt diese Musik geradezu wie in die Fingerkuppen imprägniert. Die Interpretin ist mehr als nur gerechte Anwältin Jaëlls, sie anverwandelt sie sich mit liebevollem Verständnis und metaphysisch-mystisch gleichklanghafter Intuition. So souverän sie ihren Part vorträgt, so neugierig tastend, empathisch und beseelt entdeckt sie uns ihr vielschichtig glutvolles Wesen. Dirigent Arjan Tien und die Kölner Musiker assistieren kongenial, indem sie der Solistin zu recht den also notierten Vortritt gewähren.
Gewidmet hat die Jaëll ihr erstes Konzert dem verehrten, damals noch avantgardistischen Kollegen Camille Saint-Saëns, das zweite, um sieben Jahre jüngere in c-Moll eignete sie dem virtuoseren Eugen d‘Albert zu. Und hier schenkt sie nichts. Deutlich „lisztiger“im Gestus, schreitet sie den erdenklichsten Teufelskreis an technischen Herausforderungen aus, um äußerste Seelenlagen von Abgründen klaffender Desperatheit bis zur himmlischen Glückseligkeit zu beschreiben. Schon allein die zaubrige Variation aus glöckchenspielartigen Trillern im Diskant verströmen einen seltenen, höchst ingeniösen Reiz.
Irsen weiß das mit nachgerade weltverlorenem Hautgoût zu zelebrieren, ohne dass es ihr je an rhythmischer Sattelfestigkeit gebräche – und stürmt sodann übergangslos, doch mit angemessener Distinktion ins euphorisierende Finale. Da gibt sich die erfahrene Liszt-Interpretin zu erkennen, die überdies die Klavierschule Jaëlls – eine nach medizinisch-psychomotorischen Aspekten wissenschaftlich fundierte „Méthode“– studiert zu haben scheint.
Marie Jaëll, eine Klavierfrau durch und durch, lernte 1868 Franz Liszt kennen und nahm bei ihm Unterricht. Vielleicht war mehr als nur die Musik im Spiel, doch ihre Konzerte legen nahe, dass sie eine grandiose Pianistin gewesen sein muss – und Irsen ist ihrer voll und ganz würdig. So danken wir besonnenen Überschwangs diese Entdeckung einer verschollen Gewesenen, die deutlicher noch als Clara Wieck den männlichen Zeitgenossen in nichts nachstand. Nachträglich wundert man sich über das Sorgen und Zaudern des Altenburger Musikverlags, sich auf solch ein Projekt mit insgesamt vier CDs einzulassen. Cora Irsen hatte eine Garantiesumme als Ausfallfinanzierung beizubringen und bewies via Crowdfunding übers InternetPortal startnext (wir berichteten), dass sie nebenbei auch die Klaviatur des alternativen Private-Equity-Managements beherrscht.
Nun ist‘s vollbracht. Chapeau – so schreibt man sich in die Musikgeschichte ein.
• Marie Jaëll: Klavierkonzerte. Complete Works for Piano . Cora Irsen, WDR Funkhausorchester Köln. CD, querstand, ca. Euro