Thüringische Landeszeitung (Jena)
Der heimliche Kali-Professor wird 80
Heinz Scherzberg ist ein rastloser Rentner mit Festanstellung und noch immer in der Forschung aktiv – Ein Porträt und eine ungewöhnliche WendeErfolgsgeschichte
SONDERSHAUSEN. Weil er einst in Jena keine Wohnung bekam, kündigte der Uni-Mitarbeiter Heinz Scherzberg Anfang der sechziger Jahre seinen Job und ging als junger Wissenschaftler zu den Kaliforschern in die Provinz nach Sondershausen. Von dort aus machte er eine Wissenschaftskarriere, die ihn um die halbe Welt führte. An diesem Sonntag wird der promovierte Naturwissenschaftler 80 Jahre jung und denkt nicht wirklich an Ruhestand. Denn der rastlose Rentner ist immer noch bei den Kaliforschern aktiv – mit Festanstellung, Büro, Schreibtisch und Dienstreisen. Inzwischen gibt er sein Expertenwissen auch in Vorlesungen an die nachwachsenden Kaliforscher und Verfahrensingenieure in Sondershausen weiter – er ist der heimliche Kaliprofessor.
Scherzberg ist ein international anerkannter Wissenschaftler und gefragter Fachmann auf dem Gebiet der chemisch-physikalischen Verfahrenstechnik. Das bewegte bisherige Leben des gebürtigen Schlotheimers ist eine Erfolgsgeschichte und ziemlich ungewöhnliche Karriere. Denn obwohl der Diplomchemiker sich seit anderthalb Jahrzehnten eigentlich im verdienten Rentenstand befindet, arbeitet er bis heute erfolgreich an Projekten der Kaliforscher aus Nordthüringen mit und gibt seit wenigen Wochen sogar sein Expertenwissen bei betriebsinternen Vorlesungen an interessierte Forscher und Ingenieure der Kutec AG Salt Technologies weiter, in jenem Unternehmen, das er nach der Wende und dem Zusammenbruch der Mitteldeutschen Kali und ihres renommierten Forschungsinstitutes in Sondershausen selbst mit aufgebaut hat und wo er heute, mit nunmehr 80 Jahren immer noch angestellt ist. Ein Phänomen. Als Spitzenschüler darf Heinz Scherzberg Anfang der fünfziger Jahre eine Klasse überspringen. Ausgezeichnetes Abitur als Jahrgangsbester macht der Gymnasiast und Internatsschüler dann in Bad Langensalza schon mit 17. Dafür hat er dann auch die freie Wahl zum Wunschstudium der Chemie in Jena.
Nach erfolgreichem Abschluss des Chemiestudiums 1960 beginnt er sein Berufs- und Forscherleben an der Universität Jena, wo er sofort eine Anstellung bekommt und als Uni-Assistent schon die Hochschullaufbahn vor Augen hat. Der junge Diplom-Chemiker heiratet 1959, sucht deshalb mit seiner Frau Hanna eine Wohnung in der Saalestadt.
Aber Wohnungen waren in der damaligen DDR vielerorts knapp und begehrt, besonders in Jena, wo die Uni bei der Wohnungszuteilung damals Anfang der sechziger Jahre deutlich hinter den industriellen Produktionsbetrieben rangiert und das Nachsehen hat. Deshalb kündigt der junge Wissenschaftler seinen Uni-Job zum Semesterwechsel und geht im Frühsommer 1961 mit seiner Familie nach Sondershausen, wo gerade die Zentrale Forschungsstelle für die gesamte ostdeutsche Kaliindustrie beim Werk „Glückauf“aufgebaut wird und dem jungen Diplom-Chemiker eine interessante Forschungstätigkeit geboten wird.
In Sondershausen, unmittelbar am historischen Petersenschacht, dem Wahrzeichen der Musik- und Bergstadt, soll im zentralen Forschungsinstitut des Kombinates Kali das Expertenwissen der Kaliforscher in der DDR personell gebündelt werden. Die DDR ist auf Exporte angewiesen, da werden für alle möglichen Werke Problemlösungen gesucht, Verfahrenstechnologien und Qualitätsprodukte gebraucht, die auch international gefragt und verwertbar sind. Bis zur Wendezeit ist der Diplom-Chemiker Heinz Scherzberg, der nebenbei auch noch seine Dissertation macht und 1965 an der Uni Jena zum Doktor der Naturwissenschaften (Dr. rer. nat.) promoviert, an mehreren Forschungsprojekten und Verfahrensentwicklungen maßgeblich beteiligt.
Aus erfolgreichen Versuchen im Labor entstehen technische Versuchsanlagen, die bis zur industriellen Reife entwickelt werden. Darunter sind Projekte, für die sich auch die internationale Fachwelt interessiert, Verfahren, die exportiert werden können und willkommene Devisenbringer sind. Schon zu DDRZeiten wird der Kaliforscher Scherzberg aus Sondershausen deshalb auch ins westliche Ausland geschickt, um dort an internationalen Projekten mitzuwirken und um Versuchsanlagen mit dem Know how aus Ostdeutschland auf den Weg zu bringen – etwa in Italien, Jugoslawien, Tunesien oder in Gebieten der damaligen Sowjetunion.
Zahlreiche Patentanmeldungen der Kaliforscher, besonders in den 1980er-Jahren, belegen die Erfolge der Experten in Sondershausen. Heinz Scherzberg hat wichtige Verfahren mit entwickelt und optimiert, von denen einige noch heute erfolgreich betrieben und sogar bis in die jüngste Zeit exportiert werden. Als aber nach dem Mauerfall 1989 und der Einführung der DMark 1990 das Ende des Kaliforschungsinstitutes drohte, da standen viele Mitarbeiter vor einem beruflichen Scherbenhaufen und düsteren Zukunftsaussichten. Für die damals kurzzeitig geltende Möglichkeit für ältere Mitarbeiter der in Teilen zusammenbrechenden Betriebe aus der DDR, schon im Alter von 55 Jahren in Vorruhestand gehen zu können, fehlten Scherzberg nur wenige Monate. Dumm gelaufen, was tun?
In Sondershausen standen die Zeichen auf Privatisierung. Einige Forscher waren dazu bereit, wollten den Wechsel in die Marktwirtschaft mit Gründung einer neuen Forschungsfirma wohl wagen. Aber das kostet nicht nur Mut, sondern auch Geld. Als dann aber mit dem Forscher und mittelständischen Unternehmer Heiner Marx im Saarland ein Partner und Hauptgesellschafter für eine Ausgründung, für ein Management-buyout-Konzept, gefunden war, neben Heinz Scherzberg auch einige andere Leistungsträger des ehemaligen Kali- und Forschungsinstitutes bereit waren, als Gesellschafter mitzumachen, konnte im Januar 1992 mit 35 Mitarbeitern die Ingenieurund Forschungsfirma Kali-Umwelttechnik GmbH (Kutec) Sondershausen gegründet werden. Und Scherzberg war jetzt statt Vorruheständler Mitgründer und Teilhaber eines Unternehmens und dort Leiter der Abteilung chemisch-physikalische Verfahrenstechnik und außerdem Prokurist der neuen Firma.
Der mutige Start in die Marktwirtschaft in anfangs alten Gebäuden und Laboren wurde schnell belohnt, die Mitarbeiterzahl verdoppelte sich rasch. Das in mehreren Fachabteilungen gebündelte Expertenwissen konnte sich erfolgreich in der Marktwirtschaft behaupten und war auch international bis heute überaus erfolgreich.
Als Heinz Scherzberg 63 ist, kann er abschlagsfrei vorgezogen in Rente gehen. Oder die Rente nur halb beanspruchen, dafür den interessanten Forscherjob „zur Hälfte“in seiner Firma weitermachen. Mit 65 entscheidet sich der rührige Rentner dann für die volle Rente plus den halben Job. Weil er eine Berufung und Herausforderung ist. Im Jahr 2006 realisiert die Kutec in Österreich ein großes Projekt für Salinen Austria. Das umfassende Expertenwissen für die Inbetriebnahme, was sich noch auf Verfahren der Kaliforscher aus DDR-Zeiten stützt, haben bei der Kutec eigentlich nur wenige ältere Experten.
Heinz Scherzberg macht den Job: „Also fuhr ich mit 69 noch einmal für viereinhalb Monate zur Inbetriebnahme der neuen Anlage nach Österreich, mit manchmal bis zu zwölf Stunden langen Arbeitsschichten. Deshalb wollte ich mit 70 auch wirklich aufhören. Das habe ich tatsächlich gemacht und es zwei Jahre zu Hause ausgehalten als Rentner – mit schönen Reisen und Kreuzfahrten. Das konnte ich mir leisten“.
Aber in seine „alte“Firma am Petersenschacht zog es ihn immer wieder. Dort diskutierte er die zur Lösung anstehenden Probleme und Projekte. Und mit 72 fing er wieder an im quasi Halbtagsjob – mit Schreibtisch und Büro in der Firma, Dienstreisen, fest angestellt mit Urlaubs- und Krankengeld. Scherzbergs Frau Hanna soll nicht ganz „unschuldig“an dieser Beschäftigung gewesen sein – behauptet zumindest KutecVorstand Heiner Marx schmunzelnd: „Er kam nicht nur immer wieder in die Firma. Seine Frau hat angerufen, ihr Mann würde immer mehr Räumlichkeiten zu Hause zu Forschungszwecken nutzen – auch die Küche. Ob er denn nicht doch wieder bei der Kutec anfangen könne...“
Jetzt wird Heinz Scherzberg 80 Jahre jung. An seinem wieder aktivierten Arbeitsplatz bei der Kutec ist sein fachlicher Rat im Expertenteam immer noch willkommen. Wenn in der Firma neue große Projekte anstehen, macht er Lösungsvorschläge. Und seit wenigen Wochen gibt er auch vor interessierten Kollegen der Kutec sein in Jahrzehnten gewachsenes Expertenwissen in Vorlesungen weiter, einmal wöchentlich zwei Stunden. Scherzberg dazu: „Das über Jahrzehnte gewachsene Spezialwissen aus der Kaliforschung, aus der Verfahrenstechnik, mit dem wir seit vielen Jahren weltweit so erfolgreich sind, das gibt es nicht in einem zusammenfassenden Nachschlagewerk und das kann man so auch nicht studieren“.
Die Wohnungsnot in Jena führt ihn zu „Glückauf“
Für den Vorruhestand ein paar Monate zu jung
Zu Forschungszwecken die Küche genutzt
Engagiert für die Artenvielfalt am Possen
Wer aber glaubt, Scherzberg sei bei dieser beruflichen Inanspruchnahme mit nunmehr 80 eben der typische Rentner, der nie Zeit habe, irrt. Er genießt das Familienleben mit seiner Frau, seinen beiden Kindern und den drei Enkeln. Er kümmert sich um Haus und Garten, macht Reisen, Kreuzfahrten und Ausflüge gerne in guter Gesellschaft. Er engagiert sich für den Erhalt des bewirtschafteten Kulturwaldes rund um Sondershausen. Als jüngst Menschen aus der Kyffhäuserregion sich gegen Pläne des Thüringer Umweltministeriums organisierten, große Teile des Waldes auf der Hainleite aus der Bewirtschaftung zu nehmen, da mischte sich der Hobbybotaniker gegen die Wildnispläne öffentlich ein, weil er um die Artenvielfalt am Possen fürchtet. Den Vorsitz des neuen Vereins gegen die Urwaldpläne am Possen hat Scherzberg als Gründungsmitglied spontan und gerne übernommen.
Nur mit einer Technologie habe er sich nie wirklich befasst, bekennt er schmunzelnd: mit dem Computer. Wenn er das Internet wirklich mal brauche, dann würden ihm sein Sohn oder Kollegen in der Firma gerne helfen, sagt er. Alles andere finde er in Büchern, vor allem aber in seinem Kopf...