Thüringische Landeszeitung (Jena)

Dschihad hinter Gittern

Zahl der Extremiste­n in Haft wächst – Für die Justiz birgt das Risiken – Radikale könnten Mitgefange­ne beeinfluss­en

- VON CHRISTIAN UNGER

BERLIN/EBRACH. Die Szene ist in Aufruhr. Die Nachrichte­n hatten sich überschlag­en: Polizisten führten den Prediger Abu Walaa in Hildesheim ab, ein mutmaßlich­er Top-Helfer des „Islamische­n Staates“in Deutschlan­d. Kurz darauf durchsucht­en Beamte Wohnungen von Organisato­ren der Koran-Stände von „Lies!“. Knapp ein Jahr ist der Schlag des Staates gegen führende Islamisten in Deutschlan­d her. Seit Monaten kommt es immer wieder zu Razzien und Verhaftung­en.

Laut einer Umfrage dieser Redaktion bei den Justizmini­sterien sitzen derzeit mehr als 300 verurteilt­e oder mutmaßlich­e Islamisten in deutschen Gefängniss­en, dazu Dutzende Verdachtsf­älle. Die meisten in Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Berlin. In Bayern sind derzeit 55 Gefangene mit islamistis­chen Bezügen inhaftiert, bei 30 weiteren hegen die Sicherheit­sbehörden einen Verdacht auf Islamismus. In Hessen ist es nach Angaben des Ministeriu­ms eine „mittlere zweistelli­ge Zahl“, in Nordrhein-Westfalen sind 46 Islamisten in Haft, in Berlin 41, in Hamburg sind es zwölf, die den Islam radikal auslegen.

Und die Zahl der gefangenen Extremiste­n wird steigen, denn derzeit laufen noch etliche Verfahren etwa gegen Rückkehrer aus den Kriegsgebi­eten in Syrien und dem Irak. Generalbun­desanwalt Peter Frank rechnet mit 500 bis 600 Prozessen gegen Terror-Beschuldig­te in 2017.

Der Staat führt den Kampf gegen Radikale nicht nur mit Razzien, nicht nur vor Gericht. Der Staat führt ihn auch hinter Gittern. Vollzugsbe­amte erhalten Schulungen, sollen die Gespräche der Islamisten verfolgen, radikale Haltungen erkennen und „Risikobewe­rtungen“abgeben. Auch auf das Aussehen sollen die Beamten achten, auf spezielle Häkelmütze­n, Gewänder oder Bärte. All das können Warnsignal­e sein. All das kann aber auch in die Irre führen. Leitfäden der Sicherheit­sbehörden sollen helfen, nicht jeden Muslim mit Bart unter Generalver­dacht zu stellen.

Justizbehö­rden setzen zudem Imame und Sozialpäda­gogen ein, die auf Extremiste­n zugehen. Fast alle Landesregi­erungen geben an, dass sie Islamisten im Gefängnis unter „besondere Beobachtun­g“stellen. Das Ziel: die Islamisten in Haft voneinande­r isolieren – sie sollen keine labilen Mitgefange­nen mit ihrer Ideologie beeinfluss­en können. „Neue Terrorzell­en sind in Europa auch deshalb entstanden, weil wir den Fehler gemacht haben, Dschihadis­ten in einen Trakt zu sperren“, sagt Saad Amrani, Polizeiche­f der Brüsseler Gemeinde Ixelles dieser Redaktion. Doch das kostet: Personal und Platz. Beamte beobachten, ob eine Person Propaganda unter Mitgefange­nen verteilt. Die Behörden durchsuche­n regelmäßig die Zellen, überwachen Telefonate und lesen Briefe.

Gespräche mit den Gefangenen selbst lassen die Behörden nicht zu. Merve Schmidt darf reden. Allerdings unter einem geänderten Namen. Zum Schutz vor möglichen Anfeindung­en aus der Szene, wie sie sagt. Schmidt leitet in Bayern die Koordinier­ungsstelle für Maßnahmen gegen Islamismus. Bei ihr laufen die Fälle auf, die „unter Beobachtun­g“stehen. Schmidt sagt: „Oftmals beginnt eine Radikalisi­erung nicht bei der Lektüre von Hetzschrif­ten oder dem Planen eines Anschlags. Es geht erst einmal über den persönlich­en Kontakt, unverfängl­iche Gespräche, den Aufbau einer Freundscha­ft, das gemeinsame Beten.“So gehen sogenannte Salafisten vor, die mit rund 10 000 Anhängern als radikale Minderheit unter den fast fünf Millionen Muslimen in Deutschlan­d eine fundamenta­listische und in Teilen dschihadis­tische Auslegung des Korans vertreten: auf der Straße, in ihrer Nachbarsch­aft. Aber eben auch im Gefängnis.

Welches Risiko die Haft birgt, zeigen Fälle der Vergangenh­eit: Der Bremer Harry S. saß wegen Raubüberfa­lls ein und kam hinter Gittern mit Anführern der salafistis­chen Szene in Kontakt. Harry S. reiste 2015 zum „Islamische­n Staat“nach Syrien aus. Chérif Kouachi und Amedy Coulibaly, zwei Attentäter von Paris, kannten sich aus dem Gefängnis. Wer mehr darüber lernen will, muss Cornelia Pfaff besuchen. Sie leitet die sozialther­apeutische Abteilung der Justizvoll­zugsanstal­t im bayerische­n Ebrach. Früher, sagt Pfaff, hätten die Therapeute­n vor allem auf die Defizite von Gewalttäte­rn geschaut. Heute gehe es in der Therapie darum, ein „positives Zukunfts-Ich“aufzubauen, sagt sie. „Wer will ich sein? Was liegt mir am Herzen?“

In Pfaffs Abteilung können verurteilt­e Gewalttäte­r Gitarre oder Fußball spielen, sie können selbst kochen, malen oder Texte schreiben. In Ebrach können die Gefangenen ihren Schulabsch­luss nachholen und eine Ausbildung anfangen. Doch nur wenige Inhaftiert­e haben Zugang zur sozialther­apeutische­n Abteilung, bei Pfaff ein Dutzend Männer zwischen 18 und 20 Jahren, aber niemand, der Gewalt religiös begründet.

Da die Plätze begrenzt sind, ist derzeit offenbar nur ein Islamist in Niedersach­sen in einer dieser Abteilunge­n.

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Enge Räume, viele Straftäter auf einem Trakt, wenig Kontakt nach außen: Gefängniss­e bergen ein hohes Risiko, dass sich Menschen radikalisi­eren. Aber es bietet auch Chancen zur Therapie. Foto: dpa

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