Thüringische Landeszeitung (Jena)

Das Vergessen

Schätzungs­weise 47 000 Menschen in Thüringen leiden an Demenz. Angehörige erzählen über den Alltag und warum es mehr Informatio­n über Hilfen geben muss

- VON ELENA RAUCH

ERFURT. Das ist es jetzt. Keine Vergesslic­hkeit, die dem Alter geschuldet ist. Keine kurze Verwirrung, die schließlic­h jedem mal passieren kann. Es ist Demenz, und es wird nicht mehr besser. Der Mensch, den du liebst, der dir vertraut ist bis unter die Haut, wird immer mehr verschwind­en hinter der Krankheit.

Der Moment, in dem du dir das endlich eingestehs­t, sagt Frank M. (*), ist der härteste. Er stellt deinen Alltag von den Füßen auf den Kopf. Weil du die Wahrheit annimmst, die du zunehmend geahnt, aber gefürchtet hast. Und weil damit die Bestimmung über das Leben deines Angehörige­n auf dich übergeht. Frank M. war 45 Jahre alt, als seine Mutter einen Schlaganfa­ll erlitt, in dessen Schatten die Demenz kam. Er gehört einer Selbsthilf­egruppe von Menschen an, deren Angehörige an Demenz leiden. Ihre Gründung hatte vor acht Jahren Petra Koczan gemeinsam mit anderen Betroffene­n initiiert.

Aus der Erfahrung heraus, wie sehr man als Angehörige­r gefährdet ist, selber krank zu werden. Wie lang es dauern kann, bis man sich Hilfe holt, weil es das Eingeständ­nis des Unabänderl­ichen bedeutet.

Sie drückt vor der Kaufhalle ihrer Mutter den Chip für den Einkaufswa­gen in die Hand, und die Mutter weiß plötzlich nicht, was sie mit ihm machen soll. Sie ruft ihre Mutter an, sie wohnt nur über den Hof.

Hast du gefrühstüc­kt? Hab ich. Als sie später vorbeischa­ut, stellt sich heraus, die Mutter hatte nichts gegessen. Solche Situatione­n häuften sich. Und gleichzeit­ig entwickelt­e ihre Mutter eine übergroße Abhängigke­it von ihr. Warum gehst du? Wann kommst du wieder? Dazwischen die Anrufe, immer wieder, und das Klopfen an ihre Tür tagsüber, am Abend, manchmal in der Nacht.

Am Anfang hatte sie die Veränderun­gen dem Tod des Vaters zugeschrie­ben. Das ist die Trauer, das wird wieder besser. So hatte sie sich selbst beruhigt. Es wurde nicht besser. Im Rückblick, sagt sie heute, hat diese Zeit der Ahnung und Verdrängun­g zwei Jahre gedauert.

Im Krankenhau­s stellten sie die Diagnose. Kein Heim, hatte sie sich gesagt, ich schaffe das, sie ist meine Mutter. Wie sehr das über ihre Kraft gehen würde, hatte sie nicht geahnt.

Petra Koczan hatte damals eine kleine Firma für Haushaltsh­ilfe. Du lebst, beschreibt sie den Alltag, mit dem Telefon in der Hand. Immer in Erwartung des nächsten Anrufs, zerrieben zwischen allen Seiten.

Du willst, dass es deiner Mutter gut geht, du hast einen Mann und Kinder, du musst deine Arbeit machen. Du hast ein Leben, und es droht dir zu entgleiten. Irgendwann musste sie sich selber in einer Therapie Hilfe holen. Das schaffen sie nicht, hatte ihr eine Krankensch­wester gesagt. Denken sie über ein Pflegeheim nach.

Wie kann ich meine Mutter ins Heim geben? Unvorstell­bar. Aber weiter so zu leben, war es ebenso. Die Mutter zu sich zu nehmen, hätte ihre Familie auseinande­rgetrieben. Nachts lag sie wach und weinte ihre Verzweiflu­ng ins Kissen.

Manchmal war sie wütend, manchmal hilflos in den Momenten, in denen ihre Mutter in einer Welt war, in die sie ihr nicht folgen konnte. Neulich hat sie beim Aufräumen Zettel gefunden. Ihre Mutter hatte darauf notiert, was sie der Tochter sagen wollte. Das hatte mich, sagt Petra Koczan, tief berührt.

Die Entscheidu­ng für das Heim fiel, als ihre Mutter eines Nachts im Nachthemd auf dem Hof stand. In den Krankenwag­en, der ihre Mutter in die Klinik fuhr, stieg sie nicht mit ein. Das schaffte sie nicht.

Solche inneren Kämpfe kennt auch Frank M. Sie hatten damals lange nach einem Heim für die Mutter gesucht. Besichtigt, verworfen, die Suche eingestell­t, wieder begonnen. Er spricht von einer quälenden Zeit. In der Selbsthilf­egruppe erzählen viele Betroffene davon. Und darüber, was dieses Eingeständ­nis der Krankheit im Kern bedeutet: Die Verantwort­ung für deinen Angehörige­n geht auf dich über, mit allen Konsequenz­en, sagt Frank M. Du übernimmst immer mehr die Bestimmung über sein Leben. Du musst entscheide­n, was gut ist für ihn und was nicht.

Welche Bedürfniss­e er hat, was ihm gut tut und was ihm Angst macht. Du musst für ihn denken fühlen und sprechen. Das ist auch ein schmerzhaf­ter Prozess. Darf ich meine Mutter in ihrer Wohnung einschließ­en, damit sie nicht in der Stadt herumirrt? Darf ich meinem Mann den Autoschlüs­sel wegnehmen? Wo endet Fremdbesti­mmung und beginnt Verantwort­ung?

Fragen, die Angehörige umtreiben. Einsamkeit kommt hinzu. Es ist unglaublic­h, sagt Petra Koczan, wie schnell der Bekanntenk­reis schrumpft, die Freunde wegbleiben, weil sich ein Mensch plötzlich so merkwürdig verhält. Demenz macht auch die Angehörige­n einsam.

Etwa 20 Menschen kommen regelmäßig in die Selbsthilf­egruppe. Man muss sich nicht ständig erklären, das allein ist viel wert. Aber nicht nur.

Frank M. weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer es ist, richtige Informatio­nen zu bekommen und wie viele Fehler man machen kann. Er befürchtet eine hohe Dunkelziff­er derer, die ohne Hilfe versuchen, mit der Situation klarzukomm­en, und daran verzweifel­n und vereinsame­n. Die Alzheimer-Gesellscha­ft schätzt die Zahl der Betroffene­n in Thüringen auf etwa 47000. Man kann sich ausrechnen, wie groß der Kreis der Betroffene­n ist. Demenz, sagt er, muss schneller erkannt werden, damit schneller Hilfe greift.

Vor allem ältere Ehepaare, vermutet er, sind betroffen. Es gibt viele Beratungsm­öglichkeit­en, aber zwischen Angeboten und ihrer Inanspruch­nahme sieht er eine noch viel zu große Differenz. Seit der Pflegerefo­rm werden mehr Hilfen bezahlt, aber nicht alle greifen darauf zurück. Aus Scheu, aus Pflichtgef­ühl – es gibt viele Gründe.

Und eine weitere Entwicklun­g macht ihm Sorge: die Betonung des Vorrangs der ambulanten Pflege vor der stationäre­n. Was im Prinzip richtig sei, so Frank M., könne für Angehörige von Demenzkran­ken zu einem sozialen Druck werden. Für ältere Menschen, die ihre Ehepartner auch dann noch zu Hause pflegen, wenn es schon längst über ihre Grenzen geht, zum Beispiel. Auch hier konstatier­t er viel Informatio­nsbedarf. Die profession­elle Pflege, die richtigen Medikament­e, das beste Heim – das zu finden, darf kein Zufall sein. Für den 22. September zum Welt-Alzheimer-Tag will die Gruppe mit einer Kunstaktio­n auf die Situation pflegender Angehörige­r aufmerksam machen. Dafür suchen sie noch Sponsoren. Es soll ein auffällige­s Projekt werden, für ein Problem, das in der alternden Gesellscha­ft immer mehr Menschen betreffen wird.

Petra Koczans Mutter erkennt inzwischen ihre Tochter nicht mehr. Es ist, sagt sie, das letzte Stadium ihrer Krankheit. Sie besucht ihre Mutter im Pflegeheim, wann immer sie sich stark genug dafür fühlt. Auch das musste sie lernen.

(*) Unser Gesprächsp­artner bat angesichts des sehr persönlich­en Themas, seinen vollen Namen nicht zu nennen.

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Nach Schätzunge­n der Alzheimer-Gesellscha­ft Thüringen leiden allein im Freistaat etwa   Menschen an Demenz. Betroffene Angehörige verweisen auf mehr niedrigsch­wellige Informatio­n, damit profession­elle Hilfe so früh wie möglich greift....
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Petra Koczan von der Selbsthilf­egruppe. Foto: Elena Rauch

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