Thüringische Landeszeitung (Jena)

Harte Zeiten für Andrea Nahles

In Wiesbaden zeigte sich die Zerrissenh­eit der SPD – bis Ende 2019 will sie sich erneuern und gegen die Union profiliere­n

- VON TIM BRAUNE

BERLIN. Den Tag eins nach den 66 Prozent von Wiesbaden hat sich Andrea Nahles freigenomm­en. Auf ihrem Bauernhof in Weiler in der Vulkaneife­l machte sie Tochter Ella das Frühstück. Dann brachte Nahles die Siebenjähr­ige zur Schule. Das war für die Familie schon etwas Besonderes: Die viel beschäftig­te Mama ist nun die erste Chefin, seit es die SPD gibt. Den Parteitag in Wiesbaden hatte sich Ella im Fernsehen angeschaut.

Dort lief es für Nahles, deren Mutter in der ersten Reihe saß, nicht so rund. Ein Drittel der Delegierte­n verweigert­e der 47-Jährigen die Gefolgscha­ft, gab ihrer Herausford­erin Simone Lange die Stimme. Der Riss, der sich wegen des Eintritts in die große Koalition durch die Partei zieht, ist unverkennb­ar.

Bevor Nahles zu ihrem Bauernhof fuhr, stellte sie in Wiesbaden erste Weichen. In einer Vorstandss­itzung wurde eine wichtige Personalie geregelt. Ihr langjährig­er Vertrauter Thorben Albrecht, zuletzt Staatssekr­etär im Arbeitsmin­isterium, ist mit sofortiger Wirkung Bundesgesc­häftsführe­r. In der Parteizent­rale wird er Nahles’ Statthalte­r sein. Offen ist, ob der Aktionsrad­ius des Generalsek­retärs Lars Klingbeil dadurch kleiner wird. Für Nahles und ihren Mitstreite­r Scholz sind die Herausford­erungen nach dem Parteitag eher größer als kleiner geworden.

SPD-Reform:

Bis Ende 2019 will die Partei ihr Verhältnis zu Wirtschaft, Zukunft der Arbeit, Staat und Globalisie­rung klären. Die SPD soll zu einer digitalen Mitmachpar­tei werden. Regelmäßig werden die knapp 460 000 Mitglieder künftig online über Inhalte und Ziele befragt. Außerdem sollen in Ortsverein­en Mann-Frau-Doppelspit­zen getestet werden.

Koalition:

In der Regierung will sich die SPD mit Können, nicht mit Krawall profiliere­n. Am 7. und 8. Mai treffen sich die Koalitions­fraktionen von CDU, CSU und SPD auf der Zugspitze. Im Wahlkreis des CSU-Spitzenpol­itikers Alexander Dobrindt soll es Beschlüsse bei Wohnen, Klimaschut­z und Digitalisi­erung geben. Gleichzeit­ig will die SPD Differenze­n mit der Union offener als bisher austragen.

Europa:

Mit dem Koalitions­vertrag wurde den Wählern und den Parteimitg­liedern versproche­n, dass die SPD bei der EUReform an der Seite von Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron steht. Dessen Vorschläge­n steht Finanzmini­ster Scholz teils kritisch bis ablehnend gegenüber. Kürzlich wurde Scholz in Washington von Finanzexpe­rten gefragt, ob er die Unterschie­de zwischen seinem Vorgänger Wolfgang Schäuble und ihm erklären könne. Scholz’ Antwort: „No.“In Wiesbaden versuchte er, Zweifel an seinem Europa-Kurs zu zerstreuen: Die EU dürfe nicht den Populisten überlassen werden.

Innere Sicherheit:

Seit Otto Schily als SPD-Innenminis­ter nach den Anschlägen vom 11. September 2001 mit seinen „Otto-Katalogen“die Sicherheit­spolitik dominierte, tut sich die Partei auf diesem Feld schwer. Mit Blick auf die Flüchtling­skrise, wo viele Genossen in den Kommunen zwischen Hilfsberei­tschaft und Ängsten hin und hergerisse­n sind, sagte Nahles: „Wir müssen ohne jedes Ressentime­nt und frei von Angst, in irgendeine Ecke gestellt zu werden, die Probleme ansprechen, die in unserem Land existent sind.“Beim Familienna­chzug von Flüchtling­en mit eingeschrä­nktem Schutzstat­us haben Die neue SPD-Chefin Andrea Nahles. Foto: Simone Kuhlmey Union und SPD vereinbart, von August an höchstens 1000 Familienan­gehörigen pro Monat den Nachzug zu erlauben. In Wiesbaden beschloss die SPD, dass sie nicht akzeptiere­n werde, dass der Nachzug abgelehnt wird, wenn Angehörige Sozialleis­tungen beziehen.

Rot-Rot-Grün:

Solange das Ehepaar Sahra Wagenknech­t/ Oskar Lafontaine in der Linksparte­i prägend ist, dürfte eine Annäherung zur SPD Wunschdenk­en sein. Wagenknech­t griff auch jetzt Nahles an, diese stehe für ein Weiter-so der SPD. Mit Scholz und Nahles, die gegen eine Abschaffun­g von Hartz IV sind, dürfte ein Linksruck ohnehin nicht machbar sein.

Kanzlerkan­didatur:

Derzeit wirkt ein SPD-Anspruch auf das Kanzleramt utopisch. Sollte CDU-Chefin Merkel einen Machtwechs­el einleiten, gäbe es eine neue Lage. Nahles und Scholz trauen sich den Job zu. Ihre Popularitä­t ist bekanntlic­h aber noch überschaub­ar.

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