Thüringische Landeszeitung (Jena)
Gefängnisse überlastet
Überfüllte Haftanstalten, Parallelgesellschaften, organisierte Kriminalität – Zahlen und Fakten zu einem verdrängten Missstand
BERLIN. Die Zustände in deutschen Gefängnissen sind besorgniserregend. Eine Umfrage der Zeitungen der Funke Mediengruppe unter den Justizministerien der 16 Bundesländer ergab eine Auslastung von bis zu 100 Prozent, so etwa in Baden-Württemberg. Unter anderem in Bayern, Berlin und Bremen lag die Auslastung 2017 im Durchschnitt deutlich über 90 Prozent. Laut Fachleuten gilt eine Auslastung von 85 bis 90 Prozent als Vollbelegung. Mehrere Länder meldeten einen Anstieg der Angriffe auf das JVA-Personal.
BERLIN. René Müller hat einen sonderbaren Job. „Wir arbeiten im Verborgenen“, sagt er. Er redet vom Strafvollzug. Es ist eine eigene Welt. Es fehlt an Personal und an Haftplätzen. Viele Anstalten sind baufällig. Drogenkonsum und illegaler Handel florieren. Gefangene greifen Beamte an – und werden umgekehrt von Stationsleitern gemobbt. Es wird die Gefängnisse womöglich unvorbereitet treffen, wenn Bund und Länder ihr Versprechen einhalten sollten, 15 000 Stellen bei den Sicherheitsbehörden und 2000 bei der Justiz zu schaffen; in der Folge würden mehr Verbrechen aufgedeckt und verhandelt, mehr Strafen verhängt und vollstreckt. „Der Justizvollzug“, warnt Müller, der dem Bund der Strafvollzugsbediensteten vorsteht, „ist zurzeit komplett überlastet.“Diese Redaktion hat mit Politikern, mit Funktionären wie René Müller, aber auch mit Gefangenen gesprochen und die Justizministerien aller 16 Bundesländer befragt. Das Ergebnis ist beunruhigend:
Übervolle Haftanstalten
Ende 2017 saßen bundesweit mehr als 64 000 Menschen in Haft, zehn Prozent mehr als 2012 (58 073). Allein Nordrhein-Westfalen (15 698) und Bayern (11 612) beherbergen 42 Prozent aller Gefangenen. Berlin stellt mit 3943 Häftlingen rund 850 mehr als RheinlandPfalz. Schon bei einer Auslastung zwischen 85 und 90 Prozent sprechen Fachleute von einer Vollbelegung, da es immer vorkommen kann, dass Teile einer Anstalt gesperrt oder renoviert werden. In Berlin liegt die Belegungsquote bei 91,5, in Hamburg und Bayern bei 95 Prozent. Rheinland-Pfalz stößt an Grenzen: Im geschlossenen Vollzug für Männer sind die Kapazitäten erschöpft. In der letzten Januarwoche 2018 sprang die Auslastung von 99,9 auf 100,6 Prozent. In vielen Gefängnissen stünden zwei Betten in Zellen, wo vorher ein Inhaftierter gelebt habe, erzählt Müller. Hamburg hat Gefangene teilweise in Mecklenburg-Vorpommern untergebracht. So kann es vorkommen, dass ein Häftling in einem Land sitzt, aber einem anderen zugezählt wird.
Gefangene länger in Haft
In Nordrhein-Westfalen kommen auf einen Wärter 1,9 Gefangene. Bloß: „Diese Zahlen spiegeln nicht den allgemeinen Vollzugsdienst wider“, mahnt Müller. Im Gefängnis gebe es eine Sicherungsgruppe, Revisionsund Besuchsabteilung, Bedienstete in Betrieben, Kammern, Küchen, Pforten und Schleusen. Die Folge sei, dass ein Aufseher gelegentlich „bis zu 70, 80 Gefangene betreuen muss“, erzählt Müller. Die Zahl der Verurteilten ist rückläufig – hinter Gittern ist davon wenig zu spüren. Die Zahl der Untersuchungshäftlinge, aber auch der Anteil der Personen mit Vorstrafen nimmt zu. Die Folge: Freiheitsstrafen werden länger, Bewährungsstrafen widerrufen, Gefangene bleiben länger hinter Gittern.
Milliardengrab Vollzug
Bayern steckte seit 2012 rund 2,4 Milliarden Euro in die Gefängnisse, Hessen im gleichen Zeitraum knappe 32 Millionen Euro in seine Haftanstalten. Der Berliner Senat investierte seit 2012 rund 226 Millionen Euro in die sieben Hauptstadt-Knäste – fast sechsmal mehr als Hamburg in sechs JVA. Trotzdem klagen laut der Gefangenengewerkschaft GG/BO viele Inhaftierte über Enge und schlechte Betreuung. „Wir haben Kontakt zu Gefangenen fast im gesamten Bundesgebiet. Und wir hören sehr häufig Klagen darüber, dass die Gefängnisse überbelegt sind“, sagt Sprecherin Martina Franke. Ein Gefangener aus einer Anstalt in Schleswig-Holstein berichtet, es fehle an Personal, um Behördengänge zu erledigen oder den Arzt zu besuchen.
Islamistische Zellen
Gerade eine Gruppe bereitet den Behörden Sorge: Islamisten. Seit 2013 habe sich ihr Anteil an den Inhaftierten „mehr als verdreifacht“, berichtet das Justizministerium in Hessen. Anfang 2018 saßen in NRW-Gefängnissen 34 Islamisten – gegenüber sechs im Jahr 2012. Anwerbeversuche sind in bayerischen JVA „schon länger bekannt“. 2017 saßen im Freistaat 99 Islamisten hinter Gittern. Eine Arbeitsgruppe der Länder empfiehlt, Islamisten und Terroristen in ausgesuchte Anstalten zu bringen – dezentral, um geschlossene „Hochschulen der Dschihadisten“zu verhindern.
Organisierte Kriminalität
Strukturen von organisierter Kriminalität (OK) ließen sich „nie vollständig verhindern“, räumt Schleswig-Holstein ein. Sachsen und Niedersachsen berichten von „organisierten kriminellen Strukturen“. Rockergruppen hätten eine „gewisse Bedeutung“, speziell beim Handel mit unerlaubten Gegenständen (Baden-Württemberg). Bayern rechnet insgesamt 109 Gefangene der OK zu, großteils russisch-eurasische Gruppen, Berlin wiederum Rocker, arabische Großfamilien, tschetschenische Verbindungen. Sie handeln im Knast mit Drogen und Handys. In Thüringens Gefängnissen sind die russische Mafia, der Motorradclub Bandidos und die Jugendgang „Saat des Bösen“aktiv.
Mehr Angriffe auf JVA-Personal
Wo Kriminelle sind, da ist Gewalt. Laut Gewerkschaftssprecherin Franke führen aber auch die mangelhafte Betreuung sowie die Enge in den Zellentrakten zu Aggressivität, meist zu Konflikten zwischen Gefangenen. Manchmal trifft es die Wärter. 2016 meldeten einige Länder Höchststände. In Hamburg kam es zu 33 Attacken auf Betreuer, ein Jahr später 25. Dafür stieg die Zahl der Angriffe in Niedersachsen von 17 auf 45, in Rheinland-Pfalz von 18 auf 41. NRW registrierte 72 Tätlichkeiten gegen Bedienstete, gegenüber 34 im Jahr 2016.
Die Gefangenengewerkschaft wiederum meldet Fälle, in denen Inhaftierte durch Beamte attackiert würden, meist verbal. „Unsere Erfahrung ist: Leiter einer Station nutzen ihre Machtposition aus“, so Franke. Mobbing. Und noch eine Entwicklung gibt zu denken. Die Zahl der Suizide nimmt zu. Sie stieg seit 2015 von 66 auf zuletzt 82.