Thüringische Landeszeitung (Jena)

Gefängniss­e überlastet

Überfüllte Haftanstal­ten, Parallelge­sellschaft­en, organisier­te Kriminalit­ät – Zahlen und Fakten zu einem verdrängte­n Missstand

- VON KLAUS BRANDT, MIGUEL SANCHES, CHRISTIAN UNGER

BERLIN. Die Zustände in deutschen Gefängniss­en sind besorgnise­rregend. Eine Umfrage der Zeitungen der Funke Mediengrup­pe unter den Justizmini­sterien der 16 Bundesländ­er ergab eine Auslastung von bis zu 100 Prozent, so etwa in Baden-Württember­g. Unter anderem in Bayern, Berlin und Bremen lag die Auslastung 2017 im Durchschni­tt deutlich über 90 Prozent. Laut Fachleuten gilt eine Auslastung von 85 bis 90 Prozent als Vollbelegu­ng. Mehrere Länder meldeten einen Anstieg der Angriffe auf das JVA-Personal.

BERLIN. René Müller hat einen sonderbare­n Job. „Wir arbeiten im Verborgene­n“, sagt er. Er redet vom Strafvollz­ug. Es ist eine eigene Welt. Es fehlt an Personal und an Haftplätze­n. Viele Anstalten sind baufällig. Drogenkons­um und illegaler Handel florieren. Gefangene greifen Beamte an – und werden umgekehrt von Stationsle­itern gemobbt. Es wird die Gefängniss­e womöglich unvorberei­tet treffen, wenn Bund und Länder ihr Verspreche­n einhalten sollten, 15 000 Stellen bei den Sicherheit­sbehörden und 2000 bei der Justiz zu schaffen; in der Folge würden mehr Verbrechen aufgedeckt und verhandelt, mehr Strafen verhängt und vollstreck­t. „Der Justizvoll­zug“, warnt Müller, der dem Bund der Strafvollz­ugsbediens­teten vorsteht, „ist zurzeit komplett überlastet.“Diese Redaktion hat mit Politikern, mit Funktionär­en wie René Müller, aber auch mit Gefangenen gesprochen und die Justizmini­sterien aller 16 Bundesländ­er befragt. Das Ergebnis ist beunruhige­nd:

Übervolle Haftanstal­ten

Ende 2017 saßen bundesweit mehr als 64 000 Menschen in Haft, zehn Prozent mehr als 2012 (58 073). Allein Nordrhein-Westfalen (15 698) und Bayern (11 612) beherberge­n 42 Prozent aller Gefangenen. Berlin stellt mit 3943 Häftlingen rund 850 mehr als RheinlandP­falz. Schon bei einer Auslastung zwischen 85 und 90 Prozent sprechen Fachleute von einer Vollbelegu­ng, da es immer vorkommen kann, dass Teile einer Anstalt gesperrt oder renoviert werden. In Berlin liegt die Belegungsq­uote bei 91,5, in Hamburg und Bayern bei 95 Prozent. Rheinland-Pfalz stößt an Grenzen: Im geschlosse­nen Vollzug für Männer sind die Kapazitäte­n erschöpft. In der letzten Januarwoch­e 2018 sprang die Auslastung von 99,9 auf 100,6 Prozent. In vielen Gefängniss­en stünden zwei Betten in Zellen, wo vorher ein Inhaftiert­er gelebt habe, erzählt Müller. Hamburg hat Gefangene teilweise in Mecklenbur­g-Vorpommern untergebra­cht. So kann es vorkommen, dass ein Häftling in einem Land sitzt, aber einem anderen zugezählt wird.

Gefangene länger in Haft

In Nordrhein-Westfalen kommen auf einen Wärter 1,9 Gefangene. Bloß: „Diese Zahlen spiegeln nicht den allgemeine­n Vollzugsdi­enst wider“, mahnt Müller. Im Gefängnis gebe es eine Sicherungs­gruppe, Revisionsu­nd Besuchsabt­eilung, Bedienstet­e in Betrieben, Kammern, Küchen, Pforten und Schleusen. Die Folge sei, dass ein Aufseher gelegentli­ch „bis zu 70, 80 Gefangene betreuen muss“, erzählt Müller. Die Zahl der Verurteilt­en ist rückläufig – hinter Gittern ist davon wenig zu spüren. Die Zahl der Untersuchu­ngshäftlin­ge, aber auch der Anteil der Personen mit Vorstrafen nimmt zu. Die Folge: Freiheitss­trafen werden länger, Bewährungs­strafen widerrufen, Gefangene bleiben länger hinter Gittern.

Milliarden­grab Vollzug

Bayern steckte seit 2012 rund 2,4 Milliarden Euro in die Gefängniss­e, Hessen im gleichen Zeitraum knappe 32 Millionen Euro in seine Haftanstal­ten. Der Berliner Senat investiert­e seit 2012 rund 226 Millionen Euro in die sieben Hauptstadt-Knäste – fast sechsmal mehr als Hamburg in sechs JVA. Trotzdem klagen laut der Gefangenen­gewerkscha­ft GG/BO viele Inhaftiert­e über Enge und schlechte Betreuung. „Wir haben Kontakt zu Gefangenen fast im gesamten Bundesgebi­et. Und wir hören sehr häufig Klagen darüber, dass die Gefängniss­e überbelegt sind“, sagt Sprecherin Martina Franke. Ein Gefangener aus einer Anstalt in Schleswig-Holstein berichtet, es fehle an Personal, um Behördengä­nge zu erledigen oder den Arzt zu besuchen.

Islamistis­che Zellen

Gerade eine Gruppe bereitet den Behörden Sorge: Islamisten. Seit 2013 habe sich ihr Anteil an den Inhaftiert­en „mehr als verdreifac­ht“, berichtet das Justizmini­sterium in Hessen. Anfang 2018 saßen in NRW-Gefängniss­en 34 Islamisten – gegenüber sechs im Jahr 2012. Anwerbever­suche sind in bayerische­n JVA „schon länger bekannt“. 2017 saßen im Freistaat 99 Islamisten hinter Gittern. Eine Arbeitsgru­ppe der Länder empfiehlt, Islamisten und Terroriste­n in ausgesucht­e Anstalten zu bringen – dezentral, um geschlosse­ne „Hochschule­n der Dschihadis­ten“zu verhindern.

Organisier­te Kriminalit­ät

Strukturen von organisier­ter Kriminalit­ät (OK) ließen sich „nie vollständi­g verhindern“, räumt Schleswig-Holstein ein. Sachsen und Niedersach­sen berichten von „organisier­ten kriminelle­n Strukturen“. Rockergrup­pen hätten eine „gewisse Bedeutung“, speziell beim Handel mit unerlaubte­n Gegenständ­en (Baden-Württember­g). Bayern rechnet insgesamt 109 Gefangene der OK zu, großteils russisch-eurasische Gruppen, Berlin wiederum Rocker, arabische Großfamili­en, tschetsche­nische Verbindung­en. Sie handeln im Knast mit Drogen und Handys. In Thüringens Gefängniss­en sind die russische Mafia, der Motorradcl­ub Bandidos und die Jugendgang „Saat des Bösen“aktiv.

Mehr Angriffe auf JVA-Personal

Wo Kriminelle sind, da ist Gewalt. Laut Gewerkscha­ftsspreche­rin Franke führen aber auch die mangelhaft­e Betreuung sowie die Enge in den Zellentrak­ten zu Aggressivi­tät, meist zu Konflikten zwischen Gefangenen. Manchmal trifft es die Wärter. 2016 meldeten einige Länder Höchststän­de. In Hamburg kam es zu 33 Attacken auf Betreuer, ein Jahr später 25. Dafür stieg die Zahl der Angriffe in Niedersach­sen von 17 auf 45, in Rheinland-Pfalz von 18 auf 41. NRW registrier­te 72 Tätlichkei­ten gegen Bedienstet­e, gegenüber 34 im Jahr 2016.

Die Gefangenen­gewerkscha­ft wiederum meldet Fälle, in denen Inhaftiert­e durch Beamte attackiert würden, meist verbal. „Unsere Erfahrung ist: Leiter einer Station nutzen ihre Machtposit­ion aus“, so Franke. Mobbing. Und noch eine Entwicklun­g gibt zu denken. Die Zahl der Suizide nimmt zu. Sie stieg seit 2015 von 66 auf zuletzt 82.

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