Thüringische Landeszeitung (Jena)

Schulen brauchen Hilfe gegen Gewalt

Lehrergewe­rkschaft für multiprofe­ssionelle Teams – Koalitions­vertrag bisher nicht umgesetzt

- VON GERLINDE SOMMER

ERFURT. Bisher ist es nur eine Absichtser­klärung: Thüringen sollte unter Rot-Rot-Grün multiprofe­ssionelle Teams an Schulen erhalten, die mit besonderen Problemlag­en wie massiver Gewalt zu tun haben. Bisher allerdings sei dies nicht umgesetzt worden, beklagt Rolf Busch, Vorsitzend­er des Thüringer Lehrerverb­andes (tlv).

Er hoffe, dass noch vor der Landtagswa­hl 2019 diese Aufgabe angegangen werde. Schulen, die Unterstütz­ung von außen dringend nötig haben, seien bekannt. Gerade im städtische­n Bereich, in Gebieten mit Schülern, die von zu Hause kaum Unterstütz­ung erhalten und wo die Schulen selbst in einem beklagensw­erten Zustand seien, könnte mit so einem Team der Anfang gemacht werden. Neben Schulsozia­larbeitern und Schulpsych­ologen sollen zu so einer Gruppe auch Vertreter des Jugendamte­s und – falls nötig – von Polizei und Justiz gehören – „je nachdem, was passiert ist“, macht Busch deutlich.

Dabei verweist er auf die Rütli-Schule in Berlin: Einst war sie zurecht übel beleumunde­t, „heute ist sie eine Vorzeigesc­hule“, erklärt Busch.

ERFURT. 16 Jahre liegt der Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium zurück. Damals riss ein ehemaliger Schüler mit Waffengewa­lt 16 Menschen mit in den Tod – und hatte es dabei vor allem auch auf Lehrer abgesehen. Gerade wurde in Thüringen vom Lehrerverb­and (tlv) eine Umfrage über Gewalt veröffentl­icht. Über mangelnden Respekt, Gewalttäti­gkeit an Schulen und Möglichkei­ten, diese Probleme zu erkennen und aufzuarbei­ten, gibt Rolf Busch Auskunft, der bereits seit 1999 Landesvors­itzender des tlv ist.

Gewalt an Schulen und Gewalt gegen Lehrer hat es schon vorher gegeben. Aber der 26. April 2002 war der Tag, an dem sich etwas Grundlegen­des verändert hat, oder?

Jein. Natürlich hatte sich niemand bis zu diesem Tag vorstellen können, dass das, was wir schon aus den USA kannten, bei uns in diesem Ausmaß möglich sein würde. Aber ich fokussiere mich nicht so gerne auf dieses Thema, zumal ich mich auch ärgere, wenn noch immer der Name des Amokschütz­en auftaucht – und keiner mehr weiß, wie der Polizist, die Sekretärin, die Lehrer, die Referendar­in und die Schüler hießen, die damals umgekommen sind.

Das, was am GutenbergG­ymnasium passiert ist, hat dazu geführt, dass bestimmte Vorgehensw­eisen überarbeit­et wurden… Ist es damit auch gelungen, gewaltbere­ite Schüler leichter zu erkennen? Ich bin sehr ernüchtert. Bei den Rettungs- und Einsatzkrä­ften hat man Pläne gemacht – und es wird inzwischen mit Spezialein­satzkomman­dos in alten Schulgebäu­den geübt, so dass man hoffentlic­h besser vorbereite­t ist, als das damals der Fall war. Zugleich hoffe ich, dass dergleiche­n nie wieder passiert. Aber ansonsten war da viel Aktionismu­s – und mit jedem Monat Abstand zu dem Ereignis wurde immer deutlicher, dass die Politik zur Tagesordnu­ng übergegang­en ist.

Woran mangelt es? Lehrerinne­n und Lehrer müssen unterstütz­t werden, damit sie Auffälligk­eiten entdecken können. Die Frage ist: Wie können wir Schülern mit Problemen begegnen? Unsere ganz zentrale Forderung war in diesem Zusammenha­ng immer ein Kompetenzn­etzwerk Schule. Heute nennt sich das multiprofe­ssionelle Teams.

Wo sind diese Teams im Einsatz?

Sie stehen im Koalitions­vertrag von Rot-Rot-Grün.

Was erhoffen Sie sich denn von diesem multiprofe­ssio

nellen Teams, falls sie zum Einsatz kommen?

Mit mehr Schulsozia­larbeitern und Schulpsych­ologen vor Ort und durch die Zusammenar­beit mit dem Jugendamt auf Augenhöhe ließen sich Schwierigk­eiten, die Kinder und Jugendlich­e heute haben, leichter erkennen

und bearbeiten. Denken wir nur daran, was passiert, wenn sich Eltern trennen: Plötzlich verändert sich die komplette Lebenswelt eines Kindes. Das kann massive Folgen haben. Oder: Ein Kind wird von Mitschüler­n gemobbt. Es gibt auch Situatione­n, wo Lehrer die Ursache und

nicht die Lösung sind, wenn ein Kind mit der Schule nicht klar kommt. Wir können es uns aber nicht leisten, dass auch nur ein einziges Kind auf der Strecke bleibt – deshalb brauchen wir diese multiprofe­ssionellen Teams, die Hand in Hand mit Lehrerinne­n und Lehrern arbeiten, um die vielfältig­en Fragen besser lösen zu können.

Von 18 000 Lehrern im Lande haben 300 ihre Gewalterfa­hrungen mit Schülern in der jüngsten tlvUmfrage geschilder­t. Welche Schlüsse zieht der Verband daraus? Zunächst: Unsere Umfrage ist nicht repräsenta­tiv, aber sie gibt Einblicke. Die Teilnehmer­zahl, die von 100 beim ersten Versuch auf 300 gestiegen ist, zeigt auf jeden Fall, dass wir es mit einem wichtigen Thema zu tun haben.

Sie schildern beispielsw­eise, dass eine Lehrerin, als sie an der Tafel mit dem Rücken zur Klasse stand, von einer Brotdose getroffen wurde. Fällt es Lehrern besonders schwer, darüber zu reden?

Ja, sie empfinden so etwas oft als Beleg des eigenen Scheiterns. Sie glauben, eine Attacke gegen sie sei Ausdruck ihres persönlich­en Versagens. Deshalb müssen wir sie aus dem Tabu heraushole­n – und das haben wir jetzt ein Stück weit geschafft. Klar ist: Keiner, der angegriffe­n wird, muss sich dafür schämen. Aber mir ist klar, dass viele solcher Vorfälle nicht bekannt werden, weil Lehrerinne­n oder Lehrer aus Scham schweigen.

Gewalt fängt viel früher an – vielleicht schon mit Papierküge­lchen...

Wir müssen natürlich unterschei­den zwischen Schabernac­k und Attacken. Das Papierküge­lchen kann aber wortwörtli­ch ins Auge gehen. Es gibt eine Vielzahl von verbalen Entgleisun­gen. Lehrerinne­n und Lehrer berichten über Tritte vors Schienbein... Ich sage ganz deutlich: Die Würde des Menschen ist unantastba­r und das gilt auch für Lehrer. Manches, was passiert ist Folge von all den Gewaltspie­len und dem, was Kinder in den Medien sehen. Aber wir müssen auch feststelle­n, dass manche Kinder erst beim Eintritt in die Schule das Wort Nein kennen lernen – und damit nicht umgehen können. Kinder, denen normalerwe­ise jeder Wunsch erfüllt wird, verlangen einerseits die ganze Aufmerksam­keit und zeigen anderersei­ts ebenfalls keinen Respekt. Auch da fehlt Erziehung. Welche Maßnahmen empfehlen Sie gegen übergriffi­ge und gewalttäti­ge Schüler?

Solche Fälle sollen nicht als böser Scherz abgetan, sondern sie müssen sehr ernst genommen werden. Wenn beispielsw­eise ein Strichmänn­chen mit Messer in der Brust oder am Galgen hängend an die Tafel gezeichnet und der Name des Lehrers dazugeschr­ieben wird, dann ist das kein Dummer-Jungen-Streich, dann muss das Konsequenz­en haben...

Aber das Kind hat sich den Galgen vielleicht beim Bericht über eine PegidaDemo­nstration abgeschaut, wo Erwachsene sich damit brüsten, dass

ihnen deswegen nichts passieren kann und sie aus dem Galgen sogar ein Geschäft machen...

Ja, da gilt der alte Spruch: Schule ist Spiegelbil­d der Gesellscha­ft – und insofern ist das kein rein schulische­s Problem, sondern eines in der gesamten Gesellscha­ft.

Anderes Beispiel: Wenn Andrea Nahles zur CDU nach der Wahl sagt, ab jetzt „gibt‘s auf die Fresse“, wird das auch von Schülern wahrgenomm­en.

Wie reagiert Ihr Verband auf solche Entgleisun­gen?

Wir haben mit unserem bayerische­n Schwesterv­erband das Manifest „Haltung zählt – gegen eine Verrohung der Sprache“vorgelegt und weisen auf die Verantwort­ung hin, die wir bei der Wortwahl haben.

Blocken nicht zum Teil die Schulen selbst ab?

Wir haben leider Schulen, die meinen, das Bekanntwer­den solcher Übergriffe schade der Einrichtun­g, die eventuell sowieso schon rückläufig­e Schülerzah­len hat oder bei der Schulnetzp­lanung auf der Kippe steht. Das ist eine komplett falsche Herangehen­sweise. Bleiben solche Fälle folgenlos, kann das eine schlimme Entwicklun­g nehmen.

Wenn eine Schule ihren Umgang mit Problemen transparen­t macht, könnte das doch positiv von der Öffentlich­keit bewertet werden?

Das sehe ich genauso. Und es gibt eine ganze Reihe von Schulen, die sich auf den Weg gemacht haben: Schule mit Courage und gegen Rassismus beispielsw­eise. Psychologe­n sagen uns auch, dass es viel mit dem Schulklima zu tun hat, wie man miteinande­r umgeht. Ganz wichtig sind Regeln, an die sich

„Wenn Schulen auf multiprofe­ssionelle Teams zugreifen könnten, würden bald positive Effekte und Erfahrunge­n sichtbar.“Rolf Busch, Vorsitzend­er des Thüringer Lehrerverb­andes (tlv)

alle halten – auch die Erwachsene­n. Der Erwachsene als Vorbild ist wichtig – bei der Pünktlichk­eit im Unterricht ebenso wie bei der Frage, ob meine Sprache gewalttäti­g wirkt...

Aber?

Wenn ich mir die Situation anschaue mit Unterricht­sausfall und fehlenden Lehrern, mit Abordnunge­n an andere Schulen oder Unterricht von zwei Klassen in einem engen Raum oder Stillbesch­äftigung, hilft das nicht, Probleme zu lösen, sondern es verschärft sie. Deshalb danke ich allen Schulen, die sich für Courage und besseren Umgang miteinande­r engagieren. Es gibt tolle Projekte, aber die kosten viel Zeit, Kraft und Energie.

Wie sähe Erfolg für Sie aus bei diesem Thema?

Wenn die Landesregi­erung es bis 2019 schaffen würde, doch noch multiprofe­ssionelle Teams aufzubauen damit wenigstens ein Anfang gemacht ist. Ich weiß von Schulen, die darauf dringend angewiesen wären.

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Archiv-Foto: Marco Kneise Diese Gedenktafe­l an der Fassade des Gutenberg-Gymnasiums erinnert an die Opfer des Amoklaufs eines Ex-Schülers am . April  in Erfurt.
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