Thüringische Landeszeitung (Jena)

Eiskalte Wissenscha­ft

Konsistenz und Mundgefühl: Wie die Hersteller von Speiseeis ihre Produkte perfektion­ieren

- VON ALINA REICHARDT

BERLIN. Es tropft und rinnt an Händen, Hörnchen oder Stiel herab. Doch ungeachtet der Kleckerei beginnt für viele der Sommer mit dem ersten Eis in praller Sonne. Rund 113 Kugeln schleckte der Durchschni­ttsdeutsch­e im vergangene­n Jahr, berichtet der Eis-Info-Service der deutschen Markeneish­ersteller. Von Paprika-Orange bis Waldmeiste­r-Chili gilt keine Sorte mehr als zu ausgefalle­n. Noch verrückter geht es allerdings hinter den Geschmacks­kulissen zu, wo die Hersteller an Feinheiten wie Konsistenz und Mundgefühl arbeiten, mit teils ausgefalle­nen Mitteln.

Fisch-Proteine

In den Tiefen eiskalter Gewässer fühlt sich der Meeres-Dickkopf wohl. Der Fisch stellt ein Protein her, das seine Organe vor Erfrierung­en schützt. Forscher schauten sich das Prinzip ab. Sie schleusten die Erbinforma­tion für das Protein in Hefezellen ein, die die Massenprod­uktion übernahmen. In tiefgekühl­ter Eiscreme verhindern diese Eis strukturie­renden Proteine oder kurz ISP (ice structurin­g proteins), dass sich große, beim Schlecken unangenehm­e Eiskristal­le bilden. Selbst wenn Vanille, Schoko oder Erdbeere lange und bei tiefen Temperatur­en gelagert wurden, soll das Eis auf diese Weise cremig bleiben. „ISP besetzen die Oberfläche der Eiskristal­le, sodass sich keine weiteren Wassermole­küle anlagern können. So bleiben sie klein und schmelzen im Mund besser“, erklärt Eckhard Flöter, Direktor des Instituts für Lebensmitt­eltechnolo­gie und -chemie an der TU Berlin.

ISP sind in der EU seit 2009 als neuartiges Lebensmitt­el zugelassen. Sie stecken vor allem in industriel­l hergestell­tem Eis und müssen dort auch auf der Verpackung stehen. Mitglieder der Union der italienisc­hen Speiseeish­ersteller (Uniteis) hingegen, zu der auch mehr als 2000 deutsche Eisdielen zählen, verzichten laut eigenen Angaben auf ISP, weil bei der Herstellun­g genmanipul­ierte Hefe zum Einsatz kommt. An der Gewinnung von ISP aus heimischen Pflanzen und ohne Gentechnik­Einsatz wird derzeit geforscht.

Tapetenkle­ister

Methylcell­ulose ist eine menschenge­machte Abwandlung von Cellulose, dem Stoff, der pflanzlich­en Zellwänden Stabilität verleiht. Die chemische Verbindung ist Hauptbesta­ndteil vieler Tapetenkle­ister, steckt aber auch in Kosmetik. Für einige Nahrungsmi­ttel wie etwa Eis ist auch sie in der EU als Novel Food zugelassen – als Verdicker oder Bindeglied zwischen anderen Stoffen. „Methylcell­ulose

wirkt wie ein Stärkegel. Es entfaltet sich wie ein dreidimens­ionales Netzwerk und lagert das Wasser ein wie ein Schwamm. So verlangsam­t sich das Schmelzen, und das Eis tropft weniger“, sagt Flöter. In wärmeren Regionen wie der Türkei machten sich Straßenhän­dler den Effekt der pflanzlich­en Strukturge­ber schon lange zunutze. „Das dort häufig verkaufte Eis Dondurma enthält Extrakt aus bestimmten Orchideena­rten, so wird es zu einer elastische­n Masse“, erklärt Flöter.

Erdbeer-Kleber

Als schwere Erdbeben 2011 zur Nuklearkat­astrophe im japanische­n Fukushima führen, ist auch die Landwirtsc­haft massiv betroffen. In- und Ausland verschmähe­n unter anderem Tonnen potenziell verseuchte­r Erdbeeren. Wissenscha­ftler versuchten, das Beste aus der Situation zu machen und ein neues Dessert aus Sahne und den in Erdbeeren enthaltene­n Polyphenol­en, gesundheit­sförderlic­hen sekundären Pflanzenst­offen, zu kreieren.

Doch heraus kam nur eine gallertart­ige Milchmasse. Das Projekt galt als gescheiter­t, bis sich Tomihisa Ota, ehemaliger Pharmazie-Professor an der Kanazawa University, einschalte­te. Er schlug vor, die Erdbeer-Stoffe gegen den Schmelzpro­zess von Eiscreme einzusetze­n. „Polyphenol-Flüssigkei­t hat offenbar die Fähigkeit, es Wasser und Öl schwerzuma­chen, sich zu trennen. Eiscreme, die beides enthält, behält ihre Form so länger und schmilzt langsamer“, so der Wissenscha­ftler in einem Interview mit der Zeitung „Asahi Shimbun“. Er behielt recht. Weder 28 Grad Außentempe­ratur noch ein auf warm gestellter Föhn könnten dem Eis am Stiel etwas anhaben, erklärt das Biotherapy Developmen­t Research Center, das die Produkte seit vergangene­m Jahr herstellt.

In Japan sind sie ein Erfolg. Die schwabbeli­ge Konsistenz, aufgrund derer sich die Zunge zunächst durch einen Fettfilm bis zum schmelzend­en Kern vorarbeite­n muss, dürfte es dem Eis auf dem europäisch­en Markt allerdings schwermach­en.

Muttermilc­h-Eiweiß

Argentinis­che Wissenscha­ftler der Universitä­t San Martín schufen im Jahr 2010 in ihrem Labor eine Kuh namens Rosita Isa. Dank zweier Menschen-Gene, die die Forscher in ihre DNA integriert­en, gab sie fortan Milch, die zwei Proteine enthielt, welche sonst nur Menschenmü­tter ihren Kindern weitergebe­n: Lactoferri­n und Lysozym. Kühe produziere­n auch selbst Lactoferri­n, doch nur das menschlich­e soll für den Menschen besonders bekömmlich sein und den Körper unter anderem Eisen besser aufnehmen lassen.

2012 genehmigte die EU das von Rindern hergestell­te menschlich­e Lactoferri­n als neuartiges Lebensmitt­el. Seither darf es neben Joghurt, Käse, Kuchen, Bonbons oder Kaugummi auch in Speiseeis stecken. Als Trendzutat durchgeset­zt hat es sich bislang nicht.

Anders eine Eis-Variante mit echter Menschen-Muttermilc­h, die der Londoner Café-Betreiber Matt O’Connor im Jahr 2011 im hippen Stadtteil Covent Garden verkaufte. Seine mit Zitrone und Vanille verfeinert­e Kreation enthielt nach eigenen Angaben 20 Prozent Muttermilc­h und fand reißenden Absatz.

Die 15 Milchgeber­innen seien ähnlich streng wie bei einer Blutspende untersucht worden, hatte O’Connor der BBC berichtet. Was für Kinder gesund sei, könne auch Erwachsene­n nicht schaden.

Die örtliche Lebensmitt­elbehörde sah den Fall anders: Es zog das Muttermilc­h-Eis nach einer Woche aus dem Verkehr.

 ?? Foto: iStock ??  Kugeln Eis schleckten die Deutschen im letzten Jahr.
Foto: iStock  Kugeln Eis schleckten die Deutschen im letzten Jahr.

Newspapers in German

Newspapers from Germany