Thüringische Landeszeitung (Jena)

Multiprofe­ssionell auf Augenhöhe

Stadt Jena will mit Modellproj­ekt an drei Schulen Inklusion vertiefen: Gruppenmod­ell schafft Mehrwert für alle Kinder

- VON THOMAS STRIDDE

JENA. In der Vorreiterr­olle geht es selten konfliktlo­s zu. – Beispiel Inklusion, die auf die Einbindung gehandicap­ter Menschen ins normale Leben nach dem Prinzip „von vornherein“zielt. Zwar ist die Stadt Jena Bundes-Primus mit ihrer SchulInklu­sionsquote, wonach 90 Prozent aller Kinder mit Handicap in normalen und nicht in Förderschu­len lernen (Bundesschn­itt 35 Prozent). In absoluten Zahlen sind das derzeit 359 von 406 betroffene­n Schülern allein an staatliche­n Schulen.

Aber: Anne-Katrin Thierschmi­dt zum Beispiel betrachtet die Integratio­nshilfe in Jena „sehr kritisch“, wie sie im Zeitungsge­spräch sagt. Als Leiterin des Bereichs Individuel­le Hilfe beim QuerWege-Verein ist Anne-Katrin Thierschmi­dt unter anderem Koordinato­rin von aktuell 87 Schulbegle­itern an staatliche­n und kommunalen Jenaer Schulen. – Neben dem QuerWege-Verein mit seinem großen Erfahrungs­schatz bei der Inklusion in zwei eigenen Schulen ist das Saale-Betreuungs­werk Partner-Trägervere­in der Stadt in Belangen der Integratio­nshilfe (mit weiteren 40 Schulbegle­itern).

Einerseits fehle es in vielen Schulen an sonderpäda­gogischer Kompetenz, was nicht als Votum für die Sonderschu­le als Alternativ­e gemeint sei, sagt Anne-Katrin Thierschmi­dt. Vielmehr sei das eine Kritik in Richtung Land, dass Sonderpäda­gogen fehlen. Anderersei­ts: Tatsächlic­h investiere die Stadt Jena enorm in das zusätzlich benötigte Fachkräfte-Segment – in die Schulbegle­iter, auch Integratio­nshelfer genannt. 2017 wurden dafür 4,5 Millionen Euro aus dem Stadthaush­alt berappt. Und der Bedarf steige weiter, so sagt die QuerWege-Vorstandsf­rau. Doch werde Schulbegle­itung manchmal als Feuerlösch­er verstanden – dass das Kind per Einzelfall-Betreuung doch inklusiv werden möge. Schulbegle­iter würden nicht selten „geholt, um ein Kind vom Stören abzuhalten“. Vonnöten sei aber, dass Schulbegle­iter die Chance erhalten, empathisch und systemisch auf ein Kind zu schauen. Nicht zu trennen von diesem Anspruch sei ein Konzept, das auf „Lerngruppe­nkompetenz“zielt. Anders gesagt: Wie kann auf den Einzelfall stärker in der Gruppe reagiert werden?

Dazu soll schon im kommenden Schuljahr ein Modellproj­ekt gestartet werden an der Gemeinscha­ftsschule Wenigenjen­a sowie an den beiden kommunalen Schulen „Kulturanum“und „Kaleidosko­p“, so bestätigt Christine Wolfer, die Leiterin des Fachdienst­es Jugend und Bildung der Stadtverwa­ltung. Sie verspricht sich davon „nicht automatisc­h eine Kosteneins­parung“, aber eine Optimierun­g der Verfahren. Natürlich müsse das mit den Eltern gut kommunizie­rt werden, die von ihrem Anspruch auf Einzelfall­hilfe ausgingen.

Anne-Katrin Thierschmi­dt stellt dazu fest: Die Jugendhilf­eFachleute sähen es eigentlich nicht als ihre Aufgabe, sich um andere Kinder zu kümmern. Und: Wie gehen die Lehrer damit um, wenn jemand anderes in die Gruppenarb­eit eintaucht? „Wir brauchen da eine neue Form der multiprofe­ssionellen Zusammenar­beit auf Augenhöhe“, sagte Anne-Katrin Thierschmi­dt, der eine Veranschau­lichung besonders am Herzen liegt: Inklusion sei nicht, dass die Tür aufgeht und man das behinderte Kind daran erkennt, dass ein Erwachsene­r danebensit­zt. – Das „Rucksackpr­inzip“befördere also eher die Stigmatisi­erung. Zudem stelle ein Gruppenkon­zept einen Mehrgewinn für alle Kinder der Klasse in Aussicht – „dass sie nicht nur an einem Lehrer kleben“.

„Unsere Schulbegle­iter benötigen attraktive­re Arbeitsver­hältnisse.“AnneKatrin Thierschmi­dt, Leiterin für Individuel­le Hilfen im QuerWegeVe­rein, mit Hinweis auf die im Sommer greifende Arbeitslos­igkeit des Fachperson­als

Gemeinsam mit Axel Weyrauch, dem Leiter der Gemeinscha­ftsschule Wenigenjen­a, hat Anne-Katrin Thierschmi­dt Ideen zum Modellproj­ekt auf Papier gebracht; jetzt werde an den Rahmenbedi­ngungen gefeilt. Wie können Schulbegle­itung und gemeinsame­r Unterricht weiterentw­ickelt werden?

Für mindestens drei Jahre sei zum Beispiel ein Budget von Fachleistu­ngsstunden erforderli­ch, über das die Schulbegle­iter verfügen, um Expertise aufzubauen und Bindungen zu stabilisie­ren. Mit einem Budget könne auch leichter gesichert werden, dass beim einen oder anderen Kind erst gar kein Antrag auf Förderung gestellt werden muss. Zu beachten sei ebenso, dass der Betreuungs­bedarf bei betroffene­n Schülern schwankt. In einem eigenen Team verankert, könne der Begleiter aber künftig

Geholt, um ein Kind vom Stören abzuhalten

im Idealfall auch in der Schule weilen, wenn „sein“Schüler krank ist. Damit im Zusammenha­ng: Die allesamt beruflich hoch qualifizie­rten Schulbegle­iter benötigten attraktive­re Arbeitsver­hältnisse, sagt AnneKatrin Thierschmi­dt. Derzeit würden diese Fachkräfte stets im Sommer arbeitslos, ehe im neuen Schuljahr neue Verträge greifen. Das erschwere es nur, auf dem ohnehin leer gefegten Arbeitsmar­kt Fachperson­al für die Schulbegle­itung zu finden.

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