Thüringische Landeszeitung (Jena)
Multiprofessionell auf Augenhöhe
Stadt Jena will mit Modellprojekt an drei Schulen Inklusion vertiefen: Gruppenmodell schafft Mehrwert für alle Kinder
JENA. In der Vorreiterrolle geht es selten konfliktlos zu. – Beispiel Inklusion, die auf die Einbindung gehandicapter Menschen ins normale Leben nach dem Prinzip „von vornherein“zielt. Zwar ist die Stadt Jena Bundes-Primus mit ihrer SchulInklusionsquote, wonach 90 Prozent aller Kinder mit Handicap in normalen und nicht in Förderschulen lernen (Bundesschnitt 35 Prozent). In absoluten Zahlen sind das derzeit 359 von 406 betroffenen Schülern allein an staatlichen Schulen.
Aber: Anne-Katrin Thierschmidt zum Beispiel betrachtet die Integrationshilfe in Jena „sehr kritisch“, wie sie im Zeitungsgespräch sagt. Als Leiterin des Bereichs Individuelle Hilfe beim QuerWege-Verein ist Anne-Katrin Thierschmidt unter anderem Koordinatorin von aktuell 87 Schulbegleitern an staatlichen und kommunalen Jenaer Schulen. – Neben dem QuerWege-Verein mit seinem großen Erfahrungsschatz bei der Inklusion in zwei eigenen Schulen ist das Saale-Betreuungswerk Partner-Trägerverein der Stadt in Belangen der Integrationshilfe (mit weiteren 40 Schulbegleitern).
Einerseits fehle es in vielen Schulen an sonderpädagogischer Kompetenz, was nicht als Votum für die Sonderschule als Alternative gemeint sei, sagt Anne-Katrin Thierschmidt. Vielmehr sei das eine Kritik in Richtung Land, dass Sonderpädagogen fehlen. Andererseits: Tatsächlich investiere die Stadt Jena enorm in das zusätzlich benötigte Fachkräfte-Segment – in die Schulbegleiter, auch Integrationshelfer genannt. 2017 wurden dafür 4,5 Millionen Euro aus dem Stadthaushalt berappt. Und der Bedarf steige weiter, so sagt die QuerWege-Vorstandsfrau. Doch werde Schulbegleitung manchmal als Feuerlöscher verstanden – dass das Kind per Einzelfall-Betreuung doch inklusiv werden möge. Schulbegleiter würden nicht selten „geholt, um ein Kind vom Stören abzuhalten“. Vonnöten sei aber, dass Schulbegleiter die Chance erhalten, empathisch und systemisch auf ein Kind zu schauen. Nicht zu trennen von diesem Anspruch sei ein Konzept, das auf „Lerngruppenkompetenz“zielt. Anders gesagt: Wie kann auf den Einzelfall stärker in der Gruppe reagiert werden?
Dazu soll schon im kommenden Schuljahr ein Modellprojekt gestartet werden an der Gemeinschaftsschule Wenigenjena sowie an den beiden kommunalen Schulen „Kulturanum“und „Kaleidoskop“, so bestätigt Christine Wolfer, die Leiterin des Fachdienstes Jugend und Bildung der Stadtverwaltung. Sie verspricht sich davon „nicht automatisch eine Kosteneinsparung“, aber eine Optimierung der Verfahren. Natürlich müsse das mit den Eltern gut kommuniziert werden, die von ihrem Anspruch auf Einzelfallhilfe ausgingen.
Anne-Katrin Thierschmidt stellt dazu fest: Die JugendhilfeFachleute sähen es eigentlich nicht als ihre Aufgabe, sich um andere Kinder zu kümmern. Und: Wie gehen die Lehrer damit um, wenn jemand anderes in die Gruppenarbeit eintaucht? „Wir brauchen da eine neue Form der multiprofessionellen Zusammenarbeit auf Augenhöhe“, sagte Anne-Katrin Thierschmidt, der eine Veranschaulichung besonders am Herzen liegt: Inklusion sei nicht, dass die Tür aufgeht und man das behinderte Kind daran erkennt, dass ein Erwachsener danebensitzt. – Das „Rucksackprinzip“befördere also eher die Stigmatisierung. Zudem stelle ein Gruppenkonzept einen Mehrgewinn für alle Kinder der Klasse in Aussicht – „dass sie nicht nur an einem Lehrer kleben“.
„Unsere Schulbegleiter benötigen attraktivere Arbeitsverhältnisse.“AnneKatrin Thierschmidt, Leiterin für Individuelle Hilfen im QuerWegeVerein, mit Hinweis auf die im Sommer greifende Arbeitslosigkeit des Fachpersonals
Gemeinsam mit Axel Weyrauch, dem Leiter der Gemeinschaftsschule Wenigenjena, hat Anne-Katrin Thierschmidt Ideen zum Modellprojekt auf Papier gebracht; jetzt werde an den Rahmenbedingungen gefeilt. Wie können Schulbegleitung und gemeinsamer Unterricht weiterentwickelt werden?
Für mindestens drei Jahre sei zum Beispiel ein Budget von Fachleistungsstunden erforderlich, über das die Schulbegleiter verfügen, um Expertise aufzubauen und Bindungen zu stabilisieren. Mit einem Budget könne auch leichter gesichert werden, dass beim einen oder anderen Kind erst gar kein Antrag auf Förderung gestellt werden muss. Zu beachten sei ebenso, dass der Betreuungsbedarf bei betroffenen Schülern schwankt. In einem eigenen Team verankert, könne der Begleiter aber künftig
Geholt, um ein Kind vom Stören abzuhalten
im Idealfall auch in der Schule weilen, wenn „sein“Schüler krank ist. Damit im Zusammenhang: Die allesamt beruflich hoch qualifizierten Schulbegleiter benötigten attraktivere Arbeitsverhältnisse, sagt AnneKatrin Thierschmidt. Derzeit würden diese Fachkräfte stets im Sommer arbeitslos, ehe im neuen Schuljahr neue Verträge greifen. Das erschwere es nur, auf dem ohnehin leer gefegten Arbeitsmarkt Fachpersonal für die Schulbegleitung zu finden.